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»I Still Have A Dream« – Martin Luther King und seine Bedeutung für uns heute
16. Januar 1999
Referat zum 70. Geburtstag Martin Luther Kings für das Symposium des Martin-Luther-King-Zentrums Werdau ”Gewaltfreiheit gestern – heute – morgen” am 16.01.99 und für die Evangelische Fachhochschule Hannover am 18.01.99.
fast to dreams
(Langston Hughes, Harlem/ New York City)
for if dreams die
life is a broken-winged bird
that cannot fly.
Hold fast to dreams
for when dreams go
life is a barren field
frozen with snow.
Am 4. April des vergangenen Jahres jährte sich zum 30. Mal der Tag, an dem Martin Luther King ermordet wurde. Im Frühjahr 1968 hatte sich King mit einem Streik unterbezahlter schwarzer Arbeiter der städtischen Müllabfuhr in Memphis/Tennessee solidarisiert. Als er gerade Kirchenlieder für eine Massenversammlung am Abend des 4. April besprach, wurde er von weißen Rassisten erschossen. King starb 39jährig; am 15. Januar dieses Jahres wäre er 70 Jahre alt geworden.
King wurde zu einem Zeitpunkt umgebracht, an dem seine Popularität auf einen Tiefpunkt gesunken war. Er gehörte nicht mehr zu den zehn am meisten bewunderten Personen in den USA. Der einst als ”Apostel der Gewaltlosigkeit” hofierte Friedensnobelpreisträger wurde in seinen letzten beiden Lebensjahren für viele zur ”unerwünschten Person”. Denn er hatte im Kampf für die Rechte Benachteiligter die Gesellschaft bzw. Politiker der USA scharf kritisiert und massive Aktionen zivilen Ungehorsams befürwortet.
Heute wird derselbe Martin Luther King in den USA offiziell als Nationalheld gefeiert. Seit 1986 wird dort (jeweils am Montag nach seinem Geburtstag am 15. Januar) ein Martin-Luther-King-Feiertag begangen. King zählt zu jenen zehn Menschen, die als ”christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts” mit einer Statue in der Londoner Westminster-Abtei geehrt wurden. Auch in unserem Land gibt es viele öffentliche Einrichtungen, die Kings Namen tragen. Bei einer Umfrage im vergangenen Jahr nannten 58% der befragten Deutschen Martin Luther King als Vorbild. (Nur Albert Schweitzer lag bei dieser Befragung knapp vor King.) Ein Pfarrer aus der DDR schrieb mir am 9.November 1989: ”Jetzt ist endlich die Mauer überflüssig. Einer meiner Söhne war seit dem 2. Oktober jeden Montag in Leipzig dabei. Ich denke, Martin Luther King hat als Vorbild manchen begleitet.”
Freilich steht die Erinnerung an King gelegentlich in der Gefahr, Klischees zu fördern. So führt das Klischee vom ”gewaltlosen Märtyrer” oft dazu, Kings politische Perspektiven zu verkürzen und seine bleibende Herausforderung an uns zu verharmlosen. Da ist dann wenig zu merken von einer ”gefährlichen Erinnerung” (J.B.Metz).
So müssen auch wir uns fragen: An welchen Martin Luther King erinnern wir uns? Lassen wir uns von ihm aus gewohnten Denk- und Handlungsmustern herausfordern? Blicken wir auf sein Werk bewundernd, aber eben doch wie auf Vergangenes zurück? Oder inspiriert er uns zu mutiger Zeitgenossenschaft inmitten der bedrängenden Probleme unserer Gegenwart?
Doch zunächst will ich auf die Frage eingehen: Wer war Martin Luther King, jr.? Am 15. Januar 1929 wurde er als Sohn des schwarzen Baptistenpfarrers Martin Luther King, Sr. und seiner Frau Alberta Williams King in Atlanta/Georgia geboren. Obwohl er eher behütet in einem vergleichsweise wohlhabenden Elternhaus aufwuchs, identifizierte er sich von Jugend auf mit dem Schicksal der Mehrheit seiner schwarzen Schwestern und Brüder. Er erhielt eine Ausbildung, die nur wenigen Afro-Amerikanerinnen zugänglich war. Von 1948 bis 1954 studierte er Theologie an Universitäten im Norden der USA.
1954 – im Alter von 25 Jahren – übernahm er ein Gemeindepfarramt in Montgomery/Alabama. (Er entschied sich damit gegen eine ihm mögliche Universitätskarriere.) Bereits im folgenden Jahr sah sich King – dessen Beschäftigung mit Pazifismus und Gewaltlosigkeit bis zu diesem Zeitpunkt rein theoretischer Natur gewesen war – vor eine ungewöhnliche Herausforderung gestellt, als es in der von Rassismus geprägten Stadt Montgomery im Dezember 1955 zu einem spontanen Busboykott kam. Die gedemütigten Schwarzen waren nicht länger bereit, schikanöse Behandlung in städtischen Bussen zu erdulden. Sie weigerten sich, nur auf den hinteren Sitzen Platz zu nehmen und gegebenfalls auch diese für Weiße räumen. Der in Montgomery damals noch wenig bekannte Pastor King wurde zum Präsidenten des Boykottkomitees gewählt. Für ihn sprach, dass er in den Augen der weißen Bürgerinnen politisch ein ”unbeschriebenes Blatt” war.
Doch bald erlangte King als Sprecher der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung nationale Bekanntheit. Als sein Haus von Weißen bombardiert wurde, beschwor er seine schwarzen Leidensgenossen: ”Wir müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen. Denkt an die Worte Jesu: ,Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.’. Jesus ruft uns auch heute über die Jahrhunderte hinweg zu: ,Liebt eure Feinde!’ Das müssen wir leben.” King, der wie die meisten Bürgerinnen seines Landes Waffen zur Selbstverteidigung besaß (und der – vergeblich – um die Erlaubnis gebeten hatte, eine Schusswaffe im Auto mit sich zu führen), beschloss nun, alle Waffen aus seinem Haus zu verbannen.
Die Schwarzen hielten den Boykott trotz massiver Einschüchterungen und unter großen persönlichen Opfern ein Jahr lang durch. Sie erreichten schließlich die Aufhebung der Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt. Der Busboykott bildete den Anfang einer Bürgerrechtsbewegung, die sich über alle Südstaaten ausbreitete. Die Mehrzahl der Bürgerrechtlerinnen stammte aus schwarzen Kirchgemeinden. Ihr Ziel – die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen – versuchten sie mit gewaltlosen Mitteln zu erreichen: durch Demonstrationen, Sit-ins, Gebetswachen, Geschäftsboykotts und die Überfüllung der Gefängnisse. In ihren Kirchen übten sie gewaltfreien Widerstand ein, oft mit Hilfe eines Soziodramas.
King interpretierte Gewaltlosigkeit als ”Christentum in Aktion”. ”Der Geist und die Beweggründe” – so King – ”kamen von Christus, während die Methode von Gandhi kam.” ”Gandhi war wahrscheinlich der erste Mensch in der Geschichte, der Jesu Ethik der Liebe über die bloße Wechselwirkung zwischen einzelnen Menschen hinaus zu einer wirksamen sozialen Macht im großen Maßstab erhob.”
In seinem Rückblick auf den Busboykott von Montgomery hat King Grundaspekte gewaltloser Aktion benannt:
1.) ”Gewaltloser Widerstand ist keine Methode für Feiglinge. Es wird Widerstand geleistet. Wenn jemand diese Methode anwendet, weil er Angst hat oder weil ihm die Werkzeuge zur Gewaltanwendung fehlen, handelt er in Wirklichkeit gar nicht gewaltlos.”
2.) Gewaltloser Widerstand will ”den Gegner nicht vernichten oder demütigen. .. Das Ziel ist .. Aussöhnung.”
3.) Zum gewaltlosen Widerstand gehört ” die Bereitschaft, Demütigungen zu erdulden, ohne sich zu rächen, Schläge hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen. ..
Unverdientes Leiden erlöst. Im Leiden liegt eine gewaltige erzieherische und umwandelnde Kraft.”
4.) Der gewaltlose Widerstand gründet auf der ”Überzeugung, dass das Universum auf der Seite der Gerechtigkeit steht. Infolgedessen hat, wer an Gewaltlosigkeit glaubt, einen tiefen Glauben an die Zukunft.”
1960 wurde King Hilfspfarrer an der Kirche seines Vaters, der Ebenezer Baptist Church in Atlanta. Er hatte nun mehr Zeit für sein Engagement in der Bürgerrechtsbewegung.
Auf den Busboykott von Montgomery folgten viele gewaltlose Aktionen in anderen Städten im Süden der USA. Berühmt wurden die Kampagnen, die die von King geleitete ”Southern Christian Leadership Conference” (SCLC – ”Christliche Leitungskonferenz in den Südstaaten”) während der Jahre 1961 – 1965 in Albany, Birmingham und Selma durchführte. Ihr Ergebnis: In öffentlichen Einrichtungen war die Rassentrennung weitgehend aufgehoben. Die Zahl wahlberechtigter Afro-Amerikanerinnen hatte bedeutsam zugenommen. Vor allem hatten viele von ihnen ein neues Selbstbewusstsein gewonnen, gleichsam den ”aufrechten Gang” erlernt.
1964 – als 35jähriger! – erhielt King den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede sagte er: ” Gewaltlosigkeit ist die Antwort auf die entscheidende politische und moralische Frage unserer Zeit – die Notwendigkeit, dass der Mensch Unterdrückung und Gewalt überwindet, ohne zu Unterdrückung und Gewalt Zuflucht zu nehmen.”
Die Anwendung gewaltloser Methoden verstand King als Befreiung von dem Zwang, die herrschenden Werte der Gesellschaft, in der er lebte, bzw. der westlichen Industrienationen zu imitieren. Es ging ihm um die Durchbrechung des Gewaltzirkels. Er hoffte, mit gewaltlosen Aktionen den Gegner in einen politischen Lernprozess einzubeziehen. Immer wieder betonte er: Gewaltlosigkeit soll die Befreiung der Unterdrückten wie der Unterdrücker bewirken.
Weil das Eintreten für Gewaltlosigkeit oft als naiv belächelt wird, möchte ich betonen: King war keineswegs ein naiver, ”gesinnungsethischer” Träumer. Er war nicht blind im Blick auf die institutionalisierte Gewalt, die Gewalt der bestehenden Verhältnisse. So wies er darauf hin, dass auch die Existenz von Ghettos oder Arbeitslosigkeit eine Form von Gewalt gegenüber den Betroffenen darstelle. Scharf kritisierte er Politiker, die, während sie den Vietnamkrieg unterstützten, schwarze Ghetto-Bewohner zu Gewaltlosigkeit mahnten. Wer Gewaltlosigkeit beschwört, um bestehende Gewaltverhälnisse gegenüber kritischen Minderheiten zu verteidigen, kann sich nicht auf Martin Luther King berufen!
1967 erklärte King in einer Weihnachtspredigt: ”Wir haben die Bedeutung der Gewaltlosigkeit in unserem Kampf um Rassengerechtigkeit in den USA erprobt, nun aber .. ist die Zeit gekommen, Gewaltlosigkeit in allen Bereichen menschlicher Konflikte zu erproben, und das bedeutet Gewaltlosigkeit auf internationaler Ebene.”
Ich finde, diese Überzeugung ist für uns in Deutschland von besonderer Aktualität. Setzte unsere Politik in den letzten Jahren nicht immer stärker auf ”Konfliktlösung” mit militärischer Gewalt? Wurden nicht sog. humanitäre Einsätze zynisch dazu benutzt, uns an immer mehr ”out-of-area”-Einsätze der Bundeswehr zu gewöhnen? Sprechen nicht immer mehr Politiker der westlichen Industrienationen vom Führen ”gerechter Kriege”? King hat mit seinem Plädoyer für Gewaltlosigkeit auch auf internationaler Ebene einen Weg vorgezeichnet, der der Tendenz zur Remilitarisierung der Außenpolitik diametral entgegensetzt ist: den Weg der Rückkehr von militärischen zu (rechtzeitig angewandten!) politischen Mitteln der Konfliktlösung.
Es gibt m.E. noch weitere Aspekte der Gewaltlosigkeit Kings, die für uns im gegenwärtigen Deutschland bedeutsam sind:
In unserem Land gibt es, wenn ich es richtig sehe, eine verbreitete und manchmal fast ”schicke” Staats- und Politikverdrossenheit, die viele in dem Gefühl bestärkt: ”Man kann ja sowieso nichts machen.” Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen als nicht veränderbar. Apathie, Resignation, Wahlenthaltung, Rückzug ins Private sind die Reaktion vieler; Minderheiten setzen auf Gewalt.
King und seine Mitstreiterinnen stehen für die Erfahrung: Wo Menschen sich zusammenfinden, um in gewaltlosen direkten Aktionen Widerstand gegen Unrechtszustände zu leisten und so Konflikte öffentlich machen, da können sie – auch als Minderheit – verändernd wirken. Natürlich bewahrt sie das nicht vor Erfahrungen des Scheiterns. Aber wir sollen und brauchen uns nicht verhärten zu lassen in dieser harten Zeit! Wir sollen und können uns einmischen in die Konflikte unserer Zeit, um dem Ziel größerer Gerechtigkeit näherzukommen.
Die von King präsentierte Bewegung hat sich stets auf Grundrechte und Verfassungsprinzipien berufen, die in der US-amerikanischen Verfassung enthalten sind. ”Be trute to what you said on paper!” (”Macht wahr, wozu Ihr Euch schriftlich bekannt habt!”) rief er seinen weißen Landsleuten zu. Ich bin überzeugt: Wir können von King lernen, wenn wir einen ”Verfassungspatriotismus” entwickeln, der uns einerseits davor bewahrt, die Grundlagen unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung und unseres Rechtsstaates geringzuachten, und der uns andrerseits ermutigt, verfassungsrechtlich verankerte Menschen- und Grundrechte auch wirklich einzufordern bzw. zu verteidigen.
Wenn wir nach der Aktualität des Kingschen Erbes für uns fragen, reicht es nicht, sich an seine Grundsätze und Methoden schöpferischer Gewaltlosigkeit zu erinnern. Wer heute – über 30 Jahre nach Kings Tod – nach seiner Bedeutung für uns fragt, darf die Äußerungen und Aktionen des ”späten” King der Jahre 1966-1968 nicht ausblenden. Andernfalls wird aus King leicht ein harmloser ”Apostel der Gewaltlosigkeit”, ein von vielen Interessen vereinnahmter ”Heiliger”.
Was unterschied den ”späten” King der Jahre 1966-1968 vom ”frühen” King der Jahre 1955 bis 1965?
Als King nach schweren Ghettounruhen im Jahre 1965 eine Bilanz des ersten Jahrzehnts der Bürgerrechtsbewegung zog, musste er feststellen: Die Situation der Afro-Amerikanerinnen in den Ghettos der Großstädte, vor allem im Norden der USA, hatte sich verschlechtert. An ihrer wirtschaftlichen Benachteiligung, an der hohen Arbeitslosigkeit und der katastrophalen Wohn- und Schulsituation in den Ghettos hatte die Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen wenig oder gar nichts ändern können. Die bewährten gewaltlosen Methoden blieben hier weitgehend wirkungslos.
King verlagerte nun das Schwergewicht seiner Kritik vom Rassismusproblem auf das Problem der Armut. Er war sich darüber im klaren, dass das Problem der Armut internationale Dimensionen hat. ”Wir im Westen müssen uns vor Augen halten, dass die armen Länder vor allem deshalb arm sind, weil wir sie durch politischen oder wirtschaftlichen Kolonialismus ausgebeutet haben.” King forderte deshalb eine ”Revolution der Werte” in den westlichen Industrienationen. ”Wir müssen schnell damit anfangen, von einer sach-orientierten Gesellschaft zu einer personorientierten Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als Menschen, wird das gigantische Trio von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können. .. Gewiss ist es unsere Verpflichtung, die Rolle des barmherzigen Samariters für alle diejenigen zu übernehmen, die am Wege liegengeblieben sind. Aber das ist nur ein Anfang. Eines Tages müssen wir begreifen, dass die ganze Straße nach Jericho geändert werden muss, damit nicht fortwährend Männer und Frauen geschlagen und ausgeraubt werden, während sie sich auf ihrer Lebensreise befinden. .. Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum mit großer Unruhe betrachten. ..Ein Volk, das seit Jahren mehr Geld für militärische Verteidigung als für den Ausbau sozialer Reformen ausgibt, gerät in die Nähe des geistlichen Todes.” King war überzeugt: ” Ein Gebäude, das Bettler hervorbringt, muss neu gebaut werden.”
Wenige Monate vor seinem Tod entwickelte King einen Plan zur politischen Mobilisierung aller Unterprivilegierten in den USA. Eine ”Kampagne der Armen”(”Pool People’s Campaign”) sollte die Bürgerinnen der USA mit der Armut im eigenen Land konfrontieren. Die für das Frühjahr 1968 geplanten Aktionen sollten erstmals Arme aus allen ethnischen Gruppen vereinen. Ihr Ziel war: ”Macht für die Armen” (”poor people’s power”).
Diese Zielsetzung und die damit verbundene Thematisierung des Armuts- bzw. Reichtums(!)-Problems ist auch für uns in Deutschland von großer Aktualität; denn die Aufspaltung unserer Gesellschaft in Arme und Reiche schreitet dramatisch fort.
Seit Ende des Jahres 1966 sprach King ständig von dem Zusammenhang zwischen Rassismus, Armut uns Krieg: ”Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Übel des Rassismus, der wirtschaftlichen Ausbeutung und des Militarismus alle zusammenhängen.” Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges führte King in die erste Reihe der Vietnamkriegsgegner. Zunächst hatte er, obwohl er Mitglied des pazifistischen ”Versöhnungsbundes” war, gezögert, offen gegen den Vietnamkrieg Stellung zu beziehen. Führende Bürgerrechtler fürchteten zu Recht, dass die politische und finanzielle Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung durch weiße Liberale gefährdet sei, wenn King deutlich die Regierungspolitik kritisierte. Viele Afro-Amerikanerinnen hatten zudem Angst vor dem Vorwurf, keine echten Patrioten zu sein. King brach mit dieser Tradition in der Überzeugung: ” Es kommt eine Zeit, in der Schweigen Verrat bedeutet.” ” Ich habe selbst jahrelang Gewaltlosigkeit gepredigt. Wäre es nicht inkonsequent, wenn ich nicht gegen den Vietnamkrieg Stellung nähme?”
Genau ein Jahr vor seinem Tod erklärte King in einer eindrucksvollen Antikriegsrede in der New Yorker Riverside Kirche: ” Ich muss meiner Glaubensüberzeugung treu bleiben, mit allen Menschen zu den Kindern des lebendigen Gottes zu gehören. Diese Berufung zur Kindschaft und zur Brüderlichkeit geht über die Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nation oder Glaubensgemeinschaft hinaus. Weil ich glaube, dass dem Vater besonders die Leidenden, Hilflosen und Verachteten unter seinen Kindern am Herzen liegen, komme ich .. hierher, um für sie zu sprechen. Es ist unsere Aufgabe, für die Schwachen zu sprechen, für die, die keine Stimme haben ( ,to speak for the voiceless’), für die Opfer unserer Nation, für die, die sie Feinde nennt. Denn keine von Menschen angefertigte Erklärung kann diese zu weniger machen als zu unseren Brüdern” ( ”und Schwestern” – würden wir heute ergänzen- H.G. ).
King war bereit, einen Preis für seine ”schöpferische Unangepasstheit” zu zahlen. Ein Präsidentenberater erklärte, Kings Reden lägen ” genau auf der Linie der ,commies’”( – verächtliche Bezeichnung für Kommunisten – H.G.). Die Herausgeber des ”Life Magazine”, die nach Kings Ermordung sofort einen Gedenkband publizierten, schrieben nach Kings Rede in der Riverside-Kirche, sie sei ”über weite Strecken eine demagogische Verleumdung, die sich wie ein Manuskript für Radio Hanoi anhörte.”
Der nachdrückliche Hinweis des ”späten” King auf den Zusammenhang zwischen Rassismus, Armut und Krieg ist auch für uns als Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland von bleibender Aktualität: Wo wir diesen Zusammenhang wahrnehmen, können wir manche gängigen Erklärungen und Konfliklösungsstrategien für innen- oder weltpolitische Probleme nicht akzeptieren ( z.B.: gegen Asylbewerberinnen und Armutsflüchtlinge mehr Grenzpolizei und Gefängnisse in der ”Festung Europa”; in Konfliktzonen der sog. 3. Welt schnelle Eingreiftruppen zur Sicherung westlicher Wirtschaftsinteressen).
Wenn wir nach der Bedeutung des Kingschen Erbes für uns fragen, muss m.E. neben seiner Philosophie und Praxis der Gewaltlosigkeit und seinem Hinweis auf den Zusammenhang von Rassismus, Armut und Militarismus noch ein dritter Aspekt hervorgehoben werden: die ökumenische Dimension von Kings Denken und Handeln.
Zu Recht ist der schwarze baptistische Gemeindepfarrer ein ”Prophet der ökumenischen Christenheit” genannt worden. Ich möchte dies mit einigen Hinweisen auf Kings ökumenisches, konfessionsüberschreitendes Engagement belegen:
Im Rückblick auf den Busboykott von Montgomery schrieb King: ”Ein rühmenswerter Aspekt der ‘Montgomery Bewegung’ war die Tatsache, dass Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Presbyterianer, Episkopale und alle anderen mit dem Willen zusammenkamen, denominationelle Grenzen zu überschreiten. ..Sie ..sangen und beteten zusammen im gemeinsamen Kampf für Freiheit und menschliche Würde.”
Das Programm für den sog. Marsch auf Washington im Jahre 1963 erarbeiteten die Leiter der führenden Bürgerrechtsorganisationen zusammen mit einem Gewerkschaftsführer und je einem Repräsentanten der protestantischen, der katholischen und der jüdischen Religionsgemeinschaft. Nach dem Marsch stellte ein Journalist aus den USA fest, dass der Marsch ”die drei führenden Glaubensgemeinschaften des Landes einander näher gebracht hat als irgendeine andere Frage der Geschichte unseres Landes in Friedenszeiten.”
In der Vereinigung ”Clergy and Laymen Concerned About Vietnam” (”Geistliche und Laien in Sorge um Vietnam”), in dessen Präsidium King eintrat, engagierten sich Pastorinnen, Priester, Rabbiner und Gemeindeglieder gegen den Vietnamkrieg. Die Vereinigung wurde zum Abbild jener ”neuen Ökumene” von weißen und schwarzen Protestanten, Katholiken und Juden, deren einheitsstiftendes Moment die politisch-praktische Auslegung des biblischen Friedenszeugnisses darstellt. Nicht das Interesse an einer verwaltungstechnischen oder doktrinalen Einheit der Konfessionen führte zur Bildung dieser neuen Ökumene, sondern die gemeinsame Vertretung der elementaren Interessen von Benachteiligten und Unterdrückten – in diesem Falle von (überwiegend nichtchristlichen) Menschen in Vietnam.
Die wohl wichtigste Aufgabe der Kirche sah King darin, ”Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben (voice of the voiceless).” Das bedeutet: Vorrangige Aufgabe christlicher Kirchen ist die Parteinahme für Unterdrückte und Ohnmächtige, nicht aber die Verfolgung eigener Organisationsinteressen. Vertreterinnen der Kirche müssen verschwiegenes oder ignoriertes Unrecht öffentlich benennen. Kirche als ”Stimme derer, die keine Stimme haben,” tritt in der Öffentlichkeit für die Rechte von Benachteiligten ein, mit dem Ziel, daß alle an den Gütern der Erde und den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden.
Dieses Kirchenverständnis machten King und seine Mitarbeiter auch zum Kriterium der Zugehörigkeit zur Kirche Jesus Christi. So sprach King im Hinblick auf die Freiheitsbewegung der Afro-Amerikanerinnen von den ”vielen Leuten, die mit uns zusammen gewesen sind seit Beginn des Kampfes, .. die die wahre Apotheose(Verherrlichung, Ebenbildschaft Gottes) des christlichen Glaubens waren. .. Einige sind Kirchenmitglieder, aber viele sind keine.” ”Manche Kirchen” – so King – ”erkennen an, dass sie, um im moralischen Leben Bedeutung zu haben, die Gleichheit zum Gebot machen müssen. Die Basis für ein Bündnis mit ihnen ist stark und dauerhaft. Aber für die Kirchen, die diese Fragen vermeiden und umgehen, die in sozialen oder wirtschaftlichen Fragen stumm oder ängstlich sind, sind wir nicht mehr als Fremde, wenn wir auch dieselben Choräle zur Ehre Gottes singen.”
Dass der in der Tradition schwarzer Baptisten in den Südstaaten verwurzelte King ökumenisch dachte und handelte, war kein Zufall. Sein Konfessionsgrenzen überschreitendes Verständnis christlicher Existenz war Konsequenz seines ”Traums”. Und damit komme ich zu einem wichtigen Aspekt der Bedeutung Kings für uns heute:
King war bewegt von einem ”Traum”. Dieser Traum betraf zunächst die amerikanischen Schwarzen und ihre Gegner, wie es in der berühmten Rede von 1963 (im Rahmen des ”Marsches auf Washington”) zum Ausdruck kommt:
”Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: ,Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind.’ Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich haben einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.”
Im Laufe seines dreizehnjährigen öffentlichen Wirkens hat sich Kings Vision, sein Traum, ausgeweitet von dem national begrenzten Ziel der Gleichberechtigung für die Schwarzen in den USA zur Vision einer weltweiten ”beloved community”, eines ”Welthauses”, in dem alle Menschen – von den Übeln des Rassismus, der Armut und des Militarismus befreit – geschwisterlich zusammenleben. Entsprechend forderte er: ”Unsere Treueverpflichtungen (loyalties) müssen ökumenisch (ecumenical) werden, sie dürfen nicht regional begrenzt (sectional) bleiben. Jede Nation muss jetzt eine sich über alle Schranken hinwegsetzende Verpflichtung gegenüber der Menschheit als ganzer entwickeln.” ”Unsere Treueverpflichtungen müssen über unsere Rasse, unsere Sippe, unsere Klasse und unsere Nation hinausgehen (transcend), und das bedeutet: Wir müssen eine Weltperspektive entwickeln.”
Das ”Haus der Welt”, der ”Tisch der Brüderlichkeit, die ”beloved community”, das ”Gelobte Land”, der ”Auszug aus Ägypten” – mit diesen und anderen integrativen Bildern, in denen King die Hoffnungen und Sehnsüchte seiner Zuhörerinnen zusammenfasste, bewirkte er, dass Ohnmachtsgefühle angesichts der gegebenen politisch-sozialen Verhältnisse abgebaut wurden. Diese Bilder hatten mobilisierende Kraft, weil sie den Bann der schlechten Gegenwart überwanden. Kings Traum war ein ”Traum nach vorwärts” (E.Bloch).
Was hat dieser Traum mit uns, mit unserem Christ-sein und unseren gegenwärtigen Bemühungen um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu tun? Ich denke viel mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich bin überzeugt, dass der lange Weg zu diesen Zielen angesichts vieler Ohnmachtserfahrungen und Rückschläge nur durchzuhalten ist, wenn er von einer Vision, von einem Traum im Sinne Kings inspiriert ist. Der ”Kältestrom” der Analyse Muss begleitet sein von dem ”Wärmestrom” hoffnungsstiftender Bilder, in denen die Zukunft symbolisch vorweggenommen wird.
Ich habe oft den Eindruck, dass viele Jugendliche und Erwachsene in Deutschland übersättigt sind von den unverzichtbaren ”kalten” Analysen herrschenden Unrechts und Elends oder sich gar nicht darauf einlassen. Gerade deshalb ist es m.E. eine vorrangige pädagogische und seelsorgerische Aufgabe, Visionen und Träume zu artikulieren, die aus Apathie und Resignation oder ohnmächtiger Wut herausholen. So stellt sich uns mit der Erinnerung an Martin Luther King die Frage: Welcher Traum bewegt uns als Christen und Christinnen, als Bürger und Bürgerinnen in Deutschland?
Überblickt man die dreizehn Jahre des öffentlichen Wirkens von Martin Luther King, Jr., so wird deutlich: Er war ein Mensch auf einem Weg. Als wacher und empfindsamer Zeitgenosse ließ er sich in seinem denken und handeln immer wieder zu neuen Entwicklungen herausfordern. In Montgomery hatte er zunächst nur höfliche Behandlung der Schwarzen, nicht einmal die Aufhebung der Rassentrennung gefordert! Dreizehn Jahre später schickte er sich an, Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams am Regierungssitz zu organisieren. Während er 1964 als Friedensnobelpreisträger große öffentliche Anerkennung erfuhr, riskierte er in seinen beiden letzten Lebensjahren gesellschaftliche Ächtung wegen seiner prophetischen Kritik an den Mächtigen.
Martin Luther King war kein unangefochtener Held. Gegen Ende seines Lebens äußerte er mehrmals die Befürchtung, sein Traum könne sich in einen Alptraum(nightmare) verwandeln. Nur durch seinen Tod wurde er gehindert, in der Ebenezer Baptist Church von Atlanta eine Predigt zu halten, deren Thema lautete: ”Warum Amerika zur Hölle gehen könnte” (”Why America May Go to Hell”). Der für seinen Humor bekannte King war oft niedergeschlagen, von depressiver Stimmung ergriffen. Derselbe Mann, der für viele eine unantastbare moralische Autorität war, litt unter Schuldgefühlen wegen außerehelicher Beziehungen, plagte sich mit Selbstzweifeln. Der FBI, der ihn abhörte, legt ihm Selbstmord nahe!
Ich vermute: In seiner Widersprüchlichkeit und Angefochtenheit ist Martin Luther King uns näher als in den Heiligen- Schreinen eines King-Kultes.
Was gab Martin Luther King die Kraft, seinen Kampf für Gerechtigkeit und Befreiung durchzuhalten – allen Anfechtungen, Inhaftierungen, Todesdrohungen, Misserfolgen und Selbstzweifeln zum Trotz? Es war sein christlicher Glaube, der sich stützte auf das religiöse Erbe schwarzer Christinnen in den Südstaaten der USA. Kings Glaube war von der Hoffnung auf den befreienden Gott, von der Erinnerung an die prophetischen Visionen menschlichen Zusammenlebens in Gerechtigkeit und an Jesu Eintreten für ”die, die keine Stimme haben”. King glaubte die Worte eines Negro Spiritual: ”I heard the voice of Jesus, saying still to fight on. He promised never to leave me, never to leave me alone.”(”Ich hörte die Stimme Jesu, der mir sagte, ich solle weiterkämpfen. Er versprach mir, mich nie zu verlassen, mich nie allein zu lassen.”)
Über drei Jahrzehnte nach Kings Tod ist seine Vision einer geschwisterlichen Weltgemeinschaft keine Realität. Aber wenn wir – durch die Erinnerung an ihn ermutigt – ”sprechen für die, die keine Stimme haben”, ist sein Traum unter uns lebendig.
Heinrich W. Grosse
Angaben zur Person für das Autorinnenverzeichnis:
Heinrich W. Grosse, Dr. theol., geb. 1942 in Lüneburg; 1961-1966 Theologiestudium in Hamburg, Heidelberg, Tübingen und Göttingen; nach Vikariat und Assistentenzeit(Theol. Hochschule Bethel) 1967-1968 Studium der Theologie und Religionssoziologie in Boston/USA; Mitwirkung an Projekten der von King geleiteten Bürgerrechtsbewegung; 1972-1989 Gemeindepfarrer in Wolfsburg; seit Herbst 1989 Mitarbeiter der Pastoralsoziologischen Arbeitsstelle der ev.-luth. Landeskirche Hannovers (seit 1.7.1998: Pastoralsoziologisches Institut der Ev. Fachhochschule Hannover), † 2018
Nachfolge in Gewaltlosigkeit: Martin Luther King
Mehrfach versuchten Unbekannte, sein Haus in die Luft zu sprengen; oftmals entging er einem Mordanschlag; immer wieder wurde er verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Hundertzwanzigmal mag das geschehen sein. – Die Rede ist von Dr. Martin Luther King jr.: ein Mann mit einem Traum, der doch kein Träumer war; ein Mann, mit dem sich Präsidenten, Gelehrte und Gouverneure nur zu gern zeigten und der doch nicht sicher sein konnte, an der nächsten Imbissbude, im Restaurant oder im Schuhgeschäft bedient zu werden; ein Mann, der mehr als 300 Doktorhüte, Diplome und Auszeichnungen erhielt – bis hin zum Nobelpreis – und der doch unzählige Male als ,,dreckiger Nigger“ angespuckt, getreten und mit Steinen beworfen wurde.
Vor über 70 Jahren, am 15. Januar 1929, wurde Martin Luther King jr. als zweites Kind des Baptistenpredigers Martin Luther King sen. und seiner Ehefrau Alberta in Atlanta (Georgia), im Süden der USA, geboren. Er starb am 4. April 1968, nur 39 Jahre alt, durch einen Gewehrschuss, den ein bezahlter Killer, James Earl Ray, auf ihn abfeuerte.
Viele haben damals geglaubt, nun werde das, was mit ihm begann, was in seiner Person, durch seinen Mund unabweisbar geworden war, vergehen, verschwinden. Das hofften vor allem die, die ihn umbringen ließen – wer immer das war. Aber es kam anders. Es kam nicht so. Sein Tod markierte nicht das Ende dessen, was er gewollt hatte, was durch ihn Form gewann, was sich in ihm glaubhaft und ansteckend verkörperte. Heute wissen wir: Wiewohl tot, lebt er. Ermordet mit 39, wie Dietrich Bonhoeffer, wird ihm – so sieht es jedenfalls aus – die zweite Hälfte seines Lebens – und vielleicht mehr – hinzugefügt.
Als vor einigen Jahren der südafrikanische Bischof Desmond Tutu den Friedensnobelpreis erhielt, da wiederholte sich der Anlass, die Szenerie und der Inhalt dessen, was 20 Jahre zuvor an gleicher Stelle geschah: Am 10. Dezember 1964 erhielt Martin Luther King jr. den Friedensnobelpreis, weil es ihm gelungen war, den Rassenkonflikt zwischen Weißen und Schwarzen – das Dilemma der USA, wie Gunnar Myrdal es nannte – gewaltlos zu lösen. Geboren in der Glut des Südens und der Bedeutungslosigkeit einer schwarzen Pfarrei, geehrt mit der höchsten Auszeichnung, die die Menschheit vergibt, dreieinhalb Jahre später ausgelöscht, viel zu früh – das sind die großen Stationen eines Lebens, dessen Ausstrahlungskraft, dessen auffordernde Wirkung, offenkundig nachbebt.
Jesse Owens, der unvergessene vierfache Olympiasieger von Berlin 1936, rief, als er die Nachricht von der Ermordung Kings hörte: ,,Das gibt es doch nicht, das darf doch nicht wahr sein. Ist das unsere Welt, die Welt, in der bewundernswerte junge Männer kaltblütig niedergeschossen werden, nur weil sie dafür eintreten, dass jeder die gleiche Chance haben soll ?“
Wie war es möglich, dass ein Mensch solche Gefühle erregte – Gefühle von Verehrung und Liebe, Anerkennung, Respekt und Achtung, Gefühle aber auch tiefen Hasses ? Diese Frage lässt sich beantworten. Martin Luther King jr. setzte ein Recht außer Kraft, auf das jeder Mensch wie selbstverständlich glaubt einen Anspruch zu haben: Das Recht, sich zu wehren, wenn er angegriffen wird; das Recht zurückzuschlagen; das Recht auf Vergeltung.
Es gibt zwei Vorkommnisse im Leben Kings, die seine außergewöhnliche, seine ganz und gar a-normale Haltung in dieser Frage verdeutlichen. Am 30. Januar 1956, abends gegen 21.30 Uhr, warfen Unbekannte eine Bombe auf die Betonveranda des von ihm gemieteten Hauses in Montgomery (Alabama). King war in der Kirche. Seine Frau Coretta, Tochter Jolanda und eine Freundin flüchteten in ein rückwärtiges Zimmer. King, auf den sich der Hass richtete, weil er in einem langen Streik die Busgesellschaft von Montgomery veranlassen wollte, die ungleiche Behandlung von weißen und schwarzen Fahrgästen zu beenden, eilte sofort herbei. Inzwischen hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Die aufgestaute Wut war mit Händen zu greifen. Der Bürgermeister von Montgomery, Gayle, und der Polizeikommissar Clyde Sellers bedauerten das Attentat. C.T. Smiley, der schwarze Rektor der Booker -T. -Washington-Highschool, entgegnete: ,,Dass Sie ihr Bedauern ausdrücken, ist gut und schön, aber Sie sind verantwortlich. Sie haben das Klima für so etwas geschaffen.“ Inzwischen wuchs die Menge der entsetzten und empörten Schwarzen ständig an. Es wurden Anschuldigungen gegen die Polizei laut. Da trat M.L. King jr. auf die zerstörte Veranda. Alle spürten den Augenblick äußerster Entscheidung. Sein Haus war soeben angegriffen worden; seine Frau und sein Kind hätten getötet werden können. Ernst und gefasst stand er vor der wütenden Menge: ,,Meiner Frau und meinem Kind ist nichts passiert. Bitte, geht nach Hause ! Legt die Waffen weg ! Wir können dies Problem nicht durch Vergeltung lösen. Wir müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen. Wir müssen unsere weißen Bruder lieben, gleichgültig, was sie uns antun. Und Jesus ruft uns über die Jahrhunderte hinweg zu: Liebet eure Feinde ! Dies müssen wir leben. Wir müssen Hass mit Liebe vergelten.“ Viele weinten. Sie riefen: ,,Amen“ und ,,Gott segne Dich“. Dann zerstreute sich die Menge. Man hörte die Stimme eines weißen Polizisten: ,,Ohne den Nigger-Prediger wären wir jetzt alle tot.“
Es war ihm ernst mit dem, was er hier vorbrachte. Am 19. September 1958 signierte M. L. King jr. im Kaufhaus Blumenstein an der 125. Straße in Harlem sein gerade erschienenes Buch. Mrs. Isola Curry, eine 42jährige Schwarze, drängte sich zu ihm durch. ,,Sind Sie Dr. King ?“ Als er bejahte, rief sie: ,,Seit fünf Jahren bin ich hinter dir her“, und stieß ihm einen scharfen japanischen Brieföffner in die Brust. Später fand man bei ihr noch einen geladenen Revolver. Die Genesung Kings verlief nach einer schweren Operation ohne Komplikationen. Und wieder leuchtete etwas auf von dem neuen Geist, aus dem sich das Denken und Handeln des Baptistenpredigers aus Montgomery speiste. Er bat öffentlich für Frau Curry: ,,Diese Frau braucht Hilfe. Sie ist nicht verantwortlich für die Gewalt, die sie gegen mich gebraucht hat. Tut ihr nichts. Bringt sie nicht vor Gericht. Sie braucht keinen Richter; sie braucht einen Arzt.“
Zweifellos war M. L. King jr. ein ungewöhnlicher Mensch. Aber er stand nicht außerhalb der Gefühle und Empfindungen, die menschliches Handeln lenken. Zweifellos ist die Geschichte des Menschen eine Geschichte der Gewalt; und wiewohl eine unendliche Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Einverständnis in ihm wohnt, greift er doch immer zuerst nach ihr, um seine Probleme zu lösen. Bisher ist es nicht gelungen, ihn von diesem Wege abzubringen und ihm das Zeichen des Kam von der Stirn zu wischen. Es gibt viele, die dem Menschen die Fähigkeit absprechen, ohne Gewalt zu leben. Friedrich Hacker, ein führender amerikanischer Mediziner, scheut sich nicht, den Menschen ,,eine entfesselte Bestie ohne Tötungshemmung“ zu nennen. Man findet bei den meisten höheren Säugetieren viel Gezänk, Streiterei und Drohgebaren, aber nur wenige blutige und tödliche Kämpfe. Den eigenen Artgenossen umbringen – das tut kein Affe; das ist dem Menschen vorbehalten. Man muss es einmal so deutlich sagen: Gewalt gehört zur Grundausstattung des Menschen. Schon immer waren die Menschen von ihr fasziniert, und diese Faszination schlug um in Nachahmung, nicht in Schrecken und Abscheu. Jede Gesellschaft, jede Zeit – auch die unsere – schuf sich das Instrumentarium zu quälen, zu töten. Niemand bestreitet das. Diese Analyse des Menschen ist richtig – und Martin Luther King jr. kannte sie. Er machte sich keine Illusionen. ,,Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen und wie die Fische zu schwimmen. Doch wir haben nicht gelernt, in Frieden miteinander zu leben.“ M. L. King jr. kannte die Natur des Menschen. Aber er resignierte nicht vor dieser Unabänderbarkeit. Der Mensch ist seiner schlimmen, zerstörerischen Veranlagung nicht hilflos ausgeliefert. Es gab überwältigende Beispiele, die das bewiesen, und für King jr. waren Jesus aus Nazareth und Mahatma Gandhi diejenigen, die einen anderen Weg beschritten hatten. Gewaltlos die Konflikte in kleinen Gemeinschaften – wie Familie und Schule – und in großen – wie Staaten, Ländern, Nationen, Völkern und Erdteilen – zu lösen, erfordert nicht nur ein Umdenken, es erfordert ein Umhandeln, das eingeübt werden muss – am besten von Kindheit an. Gewaltlosigkeit ist dem Menschen von der Natur nicht mitgegeben. Er ist – wie gesagt – anders. Aber er kann die Gewaltlosigkeit lernen. Sie kann seine zweite Natur werden. King hat das praktiziert – nicht nur gedacht, geplant. Und er konnte viele dazugewinnen. Sein gewaltsamer Tod ist die Aufforderung, diesen begonnenen Weg fortzusetzen.
Den entscheidenden Anstoß erhielt King während seines Studiums: ,,Ich fuhr eines Sonntagnachmittags nach Philadelphia, um Dr. M. Johnson, den Vorsitzenden der Howard-University zu hören. Er war gerade von einer Reise nach Indien zurückgekehrt und sprach zu meiner großen Freude über das Leben und die Lehre von Mahatma Gandhi. Seine Botschaft war so tiefgründig und begeisternd, dass ich nach der Versammlung ein halbes Dutzend Bücher über Gandhis Leben und Werk kaufte. Wie die meisten Leute hatte ich von Gandhi gehört, hatte ihn aber nie ernsthaft studiert. Als ich nun die Bücher las, war ich fasziniert von seinen Feldzügen gewaltlosen Widerstandes. … In seiner Lehre von der Liebe und der Gewaltlosigkeit entdeckte ich die Methode für eine Sozialreform. Ich kam zu der Überzeugung, dass für ein unterdrücktes Volk in seinem Kampf um die Befreiung die Gewaltlosigkeit die einzig moralisch und praktisch vertretbare Methode war.“ King erfasste, als er Gandhi las, was Jesus aus Nazareth gemeint hatte: ,,Zeigt euren Feinden, dass ihr sie liebt ! Bittet Gott um seine Liebe für die, die euch verfolgen !“
Anfang 1952 lernte er dann den Menschen kennen, der ihn in all dem Schweren, das ihm auferlegt werden sollte, nie allein ließ, eine ungewöhnliche Frau: Coretta Scott. Sie heirateten 1953, und sie blieb ihm, solange er lebte, der Halt, die Stütze, ohne welche er wohl kaum durchgehalten hätte: Anklage und Verurteilung, Gefängnis und Angst, Niedergeschlagenheit und Triumph. Coretta Scott-King ist bis heute seine treueste Erbin.
Als King 1955 das Podium der Weltgeschichte betrat, ungewollt, zögernd, da dauerte die Tragödie des schwarzen Menschen in Amerika schon 360 Jahre: Ein Kapitel voller Dunkelheiten und wert, nicht vergessen zu werden. 1619 hatte das erste Sklavenschiff in Jamestown (Virginia) angelegt. Es begann eine Kette voller Unterdrückung und Gewalt, Rechtlosigkeit, Segregation. Den schwarzen Amerikanern blieb versagt, als Mensch ,,von seinem Schöpfer mit gewissen, unveräußerlichen Rechten ausgestattet“ zu sein, ,,darunter das Recht auf Leben, Freiheit und das Verlangen nach Glück“. So hatte es die amerikanische Verfassung seit dem 4. Juli 1776 zugesagt – aber nicht den Schwarzen. Sie galten nicht als Menschen.
Diese Rechte einzufordern, stand im Mittelpunkt aller Bemühungen, die King unternahm. In seiner berühmten Rede vom 28. August 1963 vor mehr als 250.000 Menschen in Washington hielt er mit den Worten daran fest: I have a dream – ,,Ich habe einen Traum. Das Leben des Negers in den USA ist immer noch verkrüppelt durch die Fesseln der Rassentrennung und die Kette der Diskriminierung. Der amerikanische Neger lebt immer noch auf einer einsamen Insel der Armut inmitten eines riesigen Ozeans materiellen Reichtums. Immer noch schmachtet der Neger am Rande der amerikanischen Gesellschaft und befindet sich im eigenen Land im Exil. Als die Architekten unserer Republik die großartigen Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung schrieben, unterzeichneten sie einen Schuldschein, zu dessen Einlösung alle Amerikaner berechtigt sein sollten… Es ist heute offenbar, dass Amerika seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist.“ Dann sprach King von den Konsequenzen: ,,Was wird aus dieser zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit werden ? Auf welchem Wege werden die Benachteiligten, die, denen man den Nagelschuh in den Nacken setzt, um sie tiefer und tiefer in den Dreck zu drücken, welchen Weg werden sie gehen ?“ Und dann gab er die Richtung an: ,,Während wir versuchen, unseren rechtmäßigen Platz zu gewinnen, dürfen wir uns keiner unrechten Handlung schuldig machen. Lasst uns nicht aus dem Kelch der Bitterkeit und
des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen. Wir dürfen unseren schöpferischen Protest nicht zu physischer Gewalt verkommen lassen … In all den Schwierigkeiten habe ich einen Traum. Ich habe den Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen. Ich habe den Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach der Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu meißeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, weil wir wissen, daß wir eines Tages frei sein werden.“
Martin Luther King jr. hatte einen Traum; aber er war kein Träumer. Er verfolgte erreichbare, realistische Ziele in kleinen Schritten. Er überforderte niemanden. Aber mit der Kraft eines alttestamentlichen Propheten wies er seine Gegenwart an, ihre Schulden zu bezahlen, damit die Schuld verkleinert werde. Niemals forderte er dazu auf, das an den Schwarzen in dreieinhalb Jahrhunderten begangene Unrecht zu sühnen. Er verwarf die ,,Lösung“, in der der Unterdrückte sich erhebt, um seinen Anspruch auf ein besseres Leben mit Gewalt zu erringen. Diesem Weg liegt das Prinzip zugrunde: ,,Auge um Auge“. Nach Kings fester Überzeugung blieben hier jedoch nur Blinde zurück. ,,Aus Gewalt“, so rief er, ,,ergibt sich kein dauerhafter Friede, weil Gewalt den Gegner demütigt, statt ihn zu gewinnen… Sie macht die Überlebenden bitter; die Zerstörer verrohen, werden brutal.“ King kannte die furchtbaren Folgen der Gewalt für die Opfer – und für die Peiniger. Und er wusste, dass die amerikanische Gesellschaft die Gewalt eher anbetete und verherrlichte als ablehnte. Deshalb, wegen der entwürdigenden Rotation von Gewalt und Gegengewalt, gewaltsamer Unterdrückung und gewaltsamer Befreiung, entschied sich King mit Blick auf Jesus aus Nazareth und Mahatma Gandhi für die Methode der Gewaltlosigkeit. Er nannte sie asymmetrisch: Auf den Schlag folgt nicht der Gegenschlag, auf Hass nicht Hass, sondern Liebe. Gewalt ist auf Unterwerfung aus, sie will Verhöhnung; Gewaltlosigkeit will Versöhnung. Wer Gewaltlosigkeit als Mittel der Konfliktlösung zwischen Menschen praktiziert, der lässt es nicht ,,darauf ankommen“. Vielmehr möchte er der Gewalt ,,zuvor kommen“, dem Gegner ,,entgegenkommen“. Der Gewaltlose schlägt nicht zurück; er schlägt vielmehr etwas ,,vor“, das der andere mittragen kann – als ersten Schritt und Anfang einer bis dahin nicht gesehenen Gemeinsamkeit. Gewaltlosigkeit ist nicht Passivität, Geschehen lassen. Der Gewaltlose greift seinen Gegner nicht an; er scheint passiv. Zugleich sind aber seine Gefühle und Handlungen äußerst aktiv. Er versucht ständig, den anderen zu überzeugen.
Konkret hieß das: Wie Gandhi wies King auf bestehendes Unrecht hin, indem er es ans Licht hob, dramatisierte. Wenn eine Firma oder eine Bank keine Schwarzen einstellte, oder nur in den untersten Lohngruppen, dann forderte er alle Schwarzen der Stadt auf, die Firma zu meiden, die Bankguthaben abzuheben. Als die Stadt Birmingham ein Sozialprogramm für die Ärmsten der Armen – und Schwarze waren überproportional vertreten – ablehnte, also bessere Wohnungen, Schulen, Arbeitsplätze, besseren Schutz bei Krankheit verweigerte, übertrat King bewusst geltendes Recht, ließ sich ins Gefängnis werfen. Tausende folgten. Sie legten den Justizvollzug lahm – und sie legten einen beschämenden Zustand bloß. Ein wesentliches Moment in der Praxis der Gewaltlosigkeit, wie King sie verstand, war, dass der, der sich ihr verschrieb, bereit sein musste zu leiden. ,,Vielleicht müssen Ströme von Blut fließen, aber es muss unser Blut sein“, hatte Gandhi denen gesagt, die mit ihm zogen. M. L. King jr. nahm diese neutestamentliche Erkenntnis auf. Stanley Levison und Harry Belafonte, der schwarze Sänger, haben es bestätigt: ,,Wir, die wir ihn kannten, erinnern uns nicht an ein einziges Mal, da er ein Wort des Hasses gegen jemanden geäußert hätte.“ Vielleicht geht es wirklich nur so, dass einer bereit sein muss, das Verhältnis zwischen Menschen ganz anders zu gestalten. M. L. King wendete die neutestamentliche Lehre ,,Wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke Wange hin“ (Mt 5,39) konsequent an. Er war nicht bereit, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er zerriss die Kette, nach der aus bösen Taten immerfort böse Taten hervorgehen müssen. Er setzte einen Neuanfang, auch um den Preis des höchsten Opfers: Des Lebens. Er wollte eine Gemeinschaft der Versöhnten – King sprach gern vom Haus der Welt: ,,Das ist das große, neue Problem der Menschheit. Wir haben ein großes Haus geerbt… in dem wir zusammen leben müssen – Schwarze und Weiße, Morgenländer und Abendländer, Juden und Nichtjuden, Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus – eine Familie, die irgendwann lernen Muss, in Frieden miteinander auszukommen.“ Das erinnert sehr an Paulus, der im Galaterbrief schrieb: ,,Hier ist nicht Jude noch
Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28).
Ist das Utopie – Nirgendort ? Nebulose Phantasie ? King meinte:
,,Wir stehen heute noch vor der Wahl: Gewaltloses Miteinander oder gewaltsame Vernichtung aller. Dies kann die letzte Chance der Menschheit sein, zwischen dem Chaos und der Gemeinschaft zu wählen.“
Wenn sich (seit 1986) an jedem dritten Montag im Januar die USA mit einem nationalen Feiertag dieses Mannes vergewissern, dann knüpfen sie an die besten Grundsätze ihrer Verfassung an. Das sollten wir auch tun.
Prof. Dr. Gerd Presler, Weingarten, Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Literaturhinweise
Martin Luther KING JR., Schöpferischer Widerstand, Gütersloh 1980
Martin Luther KING SEN., Die Kraft der Schwachen. Geschichte der Familie King, Gütersloh 1982
Gerd PRESLER, Martin Luther King (rororo-Bildmonographie 333), Reinbek 1992, 10. Aufl. 1999
Träumer und schöpferischer Extremist
Martin Luther King und dessen Ausstrahlung auf die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR
“Der vernünftigste aller Wege”
Als Martin Luther King 1963 im Gefängnis von Birmingham/Alabama von konservativen Geistlichen vorgeworfen wurde, ein Extremist zu sein, antwortete er ihnen mit einem Brief, den er auf Zeitungsrändern zu schreiben begann. Er bezeichnete darin Jesus, Lincoln und Jefferson als Extremisten und schrieb, “Es ist nicht die Frage, ob wir Extremisten sein wollen, vielmehr Extremisten welcher Art… Werden wir Extremisten für die Fortdauer der Ungerechtigkeit oder für die Ausweitung der Gerechtigkeit sein? Es mag wohl sein, dass… die Welt schöpferische Extremisten bitter nötig hat”.
War King den einen ein Extremist, so war er anderen ein Träumer. Auch die, denen er ein Träumer war, stimmten ihm bei weitem nicht alle zu. Trotzdem bewahrheitete sich in vielen Fällen, dass die von ihm praktizierte Gewaltfreiheit der “zweckmäßigste, vernünftigste und moralisch vortrefflichste Weg” zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten ist.
Kings Ideen strahlten in viele Länder aus und prägen noch heute unspektakuläre, aber in kleinen Schritten und mit langem Atem geführte Kampagnen gegen Unterdrückungsstukturen in Lateinamerika und anderen Kontinenten.
In Kirchgemeinden und Friedensgruppen der DDR spielte Martin Luther Kings Vorbild keine geringe Rolle.
Obwohl die offizielle Ideologie den bewaffneten Befreiungskampf lehrte, genoss King mit gewissen Einschränkungen auch offizielle Achtung und Sympathie. Seine Ideen wurden nicht propagiert. Aber es gab in kleiner Auflage Bücher von und über King, die von Hand zu Hand weitergegeben wurden. 1965 erschienen in dem der CDU gehörenden UNION-Verlag Kings “Warum wir nicht warten können”, 1966 in Deutsch und Englisch die Nobelpreisrede “Die neue Richtung unseres Zeitalters” und eine Kurzbiographie von Günter Wirth. Für das 1966 im Henschel-Verlag Berlin herausgegebene Buch “Blues and Trouble” von Pfarrer Dr. Theo Lehmann, Karl-Marx-Stadt, hatte Martin Luther King das Vorwort geschrieben. 1971 Coretta Kings Buch “Mein Leben mit Martin Luther King” und 1984 “Aufbruch in eine bessere Welt” von Kings Vater, Martin Luther King sr. Die Evangelische Verlagsanstalt gab 1970 eine King-Biographie von Anneliese Vahl heraus. Das interessanteste Buch über ihn aber stammte von dem sowjetischen “Iswestia”-Korrespondenten in Washington S.N. Kondraschow (VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1972). Als Vertreter einer hochgerüsteten Supermacht bescheinigte der Kommunist dem Baptistenprediger voll großer Hochachtung: “Seine Meinung war, dass in den internationalen Beziehungen des Kernzeitalters die wahre Alternative nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit liege, sondern zwischen Gewaltlosigkeit und Nichtsein”.
Die Kirchenzeitungen veröffentlichten immer wieder Texte über den Bürgerrechtskämpfer. Bildende Künstler schufen Plastiken und verbreiteten massenhaft Bild- und Textgrafiken zu King.
“Hört mal gut zu, sagte Martin Luther King zu den Kindern, die auch gegen das Unrecht demonstrieren wollten – wenn ihr ins Gefängnis kommt, und damit müsst ihr rechnen, müsst ihr alles abgeben, was ihr in der Hosentasche habt. Nur eure Zahnbürste – die dürft ihr behalten.” So wurde “Die Story vom kleinen Jonny” eingeleitet, ein Song des Jugendwartes Fritz Müller. “Hast du deine Zahnbürste dabei? – du wirst sie noch gebrauchen. Noch sind heut’ nicht alle Menschen frei, die gegen Unrecht sind.” Das Lied wurde mit Sicherheit von Tausenden Kindern und Jugendlichen in der DDR begeistert gesungen. Diaserien des Evangelischen Jungmännerwerkes über King kursierten in Gemeindekreisen. Theophil Rothenberg schuf das Martin-Luther-King-Oratorium “Go down Moses”.
Ich selbst nutzte mein Hobby, ein 100seitiges thematisches Philatelie-Exponat “Martin Luther King – gewaltloser Kampf gegen Unterdrückung und Krieg” zu gestalten, mit dem ich seit 1970 auf Ausstellungen innerhalb der DDR, auf einer Freundschaftsausstellung in Stalingrad / Wolgograd sowie auf Weltausstellungen 1973 in Poznan und 1988 in Prag zigtausende Besucher erreichen konnte. Das DDR-Fernsehen strahlte sogar den großen Martin-Luther-King-Dokumentarfilm “…dann war mein Leben nicht umsonst” von Ely Landau und Richard Kaplan aus.
Nach vierjährigen, teils abenteuerlichen Bemühungen war es mir 1987 gelungen, diesen Film als 16-mm-Kopie in die DDR zu bekommen. In 138 Vorführungen sahen ihn mehr als 10 000 Zuschauer, nicht gerechnet die Vorstellungen, die später das Antikriegsmuseum Berlin und das Jungmännerwerk Magdeburg mit eigenen Kopien organisierten.
Die Stasi hatte 1977 im Eröffnungsbericht zu meinem Operativen Vorgang geschrieben “…dass der Verdächtige bestrebt ist, die für die kapitalistischen Verhältnisse entwickelte Kampfesform des gewaltlosen Widerstandes auf die sozialistischen Verhältnisse in der DDR zu übertragen und eine Bürgerrechtsbewegung ins Leben zu rufen”. Das war etwas hochgegriffen. Noch zwölf Jahre sollte es dauern, bis in der DDR eine Bürgerrechtsbewegung entstanden war, die die Kraft entwickelte, eine politische Wende herbeizuführen. Bis dahin hatte sich Kings Gedankengut der Gewaltfreiheit in Kirchgemeinden und Friedensgruppen längst so weit verselbständigt, dass sein Name nicht mehr ständig genannt zu werden brauchte. Es kann aber mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass auch für die gewaltfreie gesellschaftliche Umwälzung in der DDR Martin Luther Kings “… Leben nicht umsonst” war.
Inzwischen hat die Gewalt das vereinigte Deutschland wieder im Griff, sei es die auf Schulhöfen, gegen Ausländer, der Eurofighter oder Bundeswehr-Auslandseinsätze. Extremisten der Liebe und der Gerechtigkeit würden dringend gebraucht. Extremisten, die auch Träumer sind. Extremisten mit einer Vision.
Copyrights Georg Meusel, Am Torbogen 5, 08412 Werdau.
Tel./Fax 03761/58181, E-Mail schorsch@martin-luther-king-zentrum.de
Veröffentlichung und sonstige Verwendung, auch auszugsweise, nur mit Quellenangabe und Zusendung eines Belegexemplars an das Martin-Luther-King-Zentrum Werdau gestattet.
Gewaltfrei leben – gewaltfrei handeln
Die gewaltfreie Aktion –
Alternative zu Krieg und Gewalt zu Gleichgültigkeit und Resignation
Glücklich sind, die auf Gewalt verzichten, weil ihnen die Erde gehören wird. Glücklich sind die Friedensmacher, weil sie Gottes Kinder sein werden.
nach Matthäus 5
Christliches Friedensseminar Königswalde, Kreis Werdau / DDR, Mai 1979
Referat von Georg Meusel (Abschrift der1981 vervielfältigten Fassung)
1. Die Hoffnungslosigkeit von Gewalt, Gegengewalt und Resignation
2. Der Begriff der Gewaltfreiheit
2.1. Gewaltfreiheit und Passivität
2.2. Definition der Gewaltfreiheit
2.3. Methoden bzw. Formen der Gewaltfreien Aktion
3. Erfahrungen mit der gewaltfreien Aktion
3.1. Mahatma Gandhi
3.2. Martin Luther King
3.3. Sonstige historische Beispiele
3.4. Die kalifornische Farmworker-Bewegung
3.5. Die französische Bauernbewegung im Larzac
3.6. Sonstige gegenwärtige Beispiele
4. Kennzeichen und Prinzipien der gewaltfreien Aktion
4.1. Das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck
4.2. Das Verhältnis zum Gegner
4.3. Das Nebeneinander von subversiver und konstruktiver Aktion
4.4. Weitere Prinzipien und Kennzeichen
5. Plädoyer für die Gewaltfreiheit
1. Die Hoffnungslosigkeit von Gewalt, Gegengewalt und Resignation
Unsere Welt ist gekennzeichnet von Gewalt, die sich am auffälligsten im Krieg ausdrückt. Von 100 Menschen, die im I. Weltkrieg umkamen, waren 5 Zivilisten und 95 Soldaten. In den letzten Jahrzehnten verschob sich das Verhältnis so, dass es im Vietnamkrieg etwa umgekehrt war, nämlich von 100 Toten etwa 95 Frauen, Kinder und sonstige Zivilpersonen. Dies als
e i n Beispiel für die Sinnlosigkeit des Krieges, auch des vorgeblich gerechten oder Verteidigungskrieges.
In der Gegenwart ist auf unserer Erde ein so riesiges Potential an Massenvernichtungswaffen angehäuft, dass ein großer Krieg die Selbstvernichtung der Menschheit bedeuten würde und selbst kleine Kriege nicht mehr gewonnen werden können. Das Wettrüsten, das ja eine Drohung mit Gewalt darstellt, verschlingt enorme Mittel, und blockiert damit die Lösung des Welternährungs- und des Umweltproblems so stark, dass es in wenigen Jahrzehnten selbstzerstörerisch für die Menschheitsgeschichte werden wird, selbst wenn es nicht zu einem Krieg kommt.
Krieg und Rüstung, aber auch terroristische Systeme wie in Chile oder Südafrika und der agitatorische Terrorismus lassen Gewalt offen zutage treten. Doch Gewalt verbirgt sich auch hinter verfestigten Strukturen, die in vielen Ländern Ausbeutung, Unterdrückung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit verewigen wollen. Diese s t r u k t u r e l l e Gewalt hemmt eine Entwicklung zur Gewährleistung von Menschenwürde und Gerechtigkeit. Ein bewaffnetes Aufbegehren dagegen führt meist zu blutigen Niederlagen oder, wenn durch Unterstützung von außen ein Sieg errungen werden kann, zu Abhängigkeiten, neuen totalitären Systemen mit wiederum ungerechten Gewaltstrukturen und Machtmißbrauch, wenn auch unter anderen Vorzeichen.
In den hochentwickelten Industrieländern ist in der Regel soziale Sicherheit, zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung gewährleistet, die aber durch strukturelle Gewalt mit Unterordnung der Einzelnen und festgefügten Machtverhältnissen erkauft wird. Die Entwicklung zu mehr Freiheit und unmittelbarer Einflußnahme der Bevölkerung auf das Geschehen im Staat stagniert. Es kommt zur Gleichgültigkeit, Resignation und innerer Emigration bei der Mehrheit. Man meint, ja doch nichts zu ändern, doch nichts echt mitentscheiden zu können. Initiative, Potenzen zum gesellschaftlichen Engagement und Begeisterungsfähigkeit werden von oben bewußt in individualische Richtungen, z.B. den Konsum oder den Zuschauersport gelenkt oder weichen eben aus Resignation heraus in solche Richtungen aus. Es kommt zu einer Flucht aus der Gesellschaft ins Privatleben, z.B. Garten, Eigenheim, Auto, Ausreiseantrag, Fernsehen, rein auf das Innenleben bezogene Religiösität. Oftmals sind es durchaus positive Dinge die aber einen unangemessen hohen Stellenwert erhalten.
Krieg, Rüstung, Terrorsysteme, verfestigte Strukturen – die Gewalt in der Sackgasse, Gegengewalt und Nichtstun sind keine Lösungsmöglichkeiten. Eine Alternative, die Möglichkeit der Gewaltfreiheit, für die es viele Beispiele und Vorbilder gibt, müßte weiterentwickelt und praktiziert werden.
2. Der Begriff der Gewaltfreiheit
2.1. Gewaltfreiheit und Passivität
Gewaltlosigkeit wurde und wird oftmals als Widerstandslosigkeit oder passiver Widerstand bezeichnet, als etwas für Schwache, Feiglinge, Ängstliche, Hilflose, die keine Waffen besitzen oder sich fürchten, Waffen zu führen.
Zur Vermeidung derartiger Mißverständnisse wurde der Begriff Gewaltfreiheit für die aktive Gewaltlosigkeit geprägt, der sich aber nicht überall durchsetzte. Es werden deshalb beide, Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit, nebeneinander für die gleiche Sache verwendet.
Martin Luther King sagte dazu:
„Mein Studium Gandhis überzeugte mich davon, daß wahrer Pazifismus nicht einfach Widerstandslosigkeit gegenüber Bösem ist, sondern Widerstand ohne Gewalt. Zwischen den beiden Standpunkten besteht ein himmelweiter Unterschied. Gandhi widersetzte sich dem Bösen mit ebensoviel Energie und Gewalt wie der, der gewalttätig Widerstand leistet. Aber er widersetzte sich mit Liebe statt mit Haß.“
(King, Mein Weg zur Gewaltlosigkeit, Zeichen der Zeit S. 43/196)
2.2. Versuch einer Definition
Gewaltlosigkeit/Gewaltfreiheit ist eine aktive innere Haltung, Kampfmethode und Aktionsform zur Lösung von Konflikten und zur Herbeiführung positiver gesellschaftlicher Veränderungen, die auf die Anwendung von physischer Gewalt gegen Menschen bewußt verzichtet, wobei also andere Menschen nicht verletzt oder getötet werden.
Dieser Definitionsversuch vereinfacht. Es gibt verschiedene Abstufungen. So lehnen manche auch die Gewaltanwendung gegen Sachen ab, z.B. gegenüber dem Zaun eines KKW-Bauplatzes oder eines militärischen Geländes.
2.3. Methoden bzw. Aktionsformen der gewaltfreien Direktaktion und ihrer Vorstufen
-Petition,
-Einflußnahme auf Kandidatenaufstellung bei Wahlen,
-Prozeß,
-Nichtzusammenarbeit mit ungerechten Systemen,
-Austritt,
-Verweigerung von Steuern,
-Demonstration,
-Sitzstreik,
-Hungerstreik,
-Boykott,
-Umgekehrter Streik,
-Streik,
-Übertretung ungerechter Gesetze,
-Zivilier Ungehorsam,
-Gewaltfreie Besetzung
(handschriftliche Anfügung):
Die Methoden oder Formen der gewaltfreien Aktion gipfeln im gewaltfreien Aufstand anstelle einer bewaffneten Revolution und in der gewaltfreien Landesverteidigung anstelle eines Verteidigungskrieges. Die Theorie der sozialen Verteidigung geht von der Überlegung aus, dass dem pot. Aggressor statt eines zu hohen Eintrittspreises ein zu hoher Aufenthaltspreis entgegengesetzt wird. Das funktioniert natürlich nur unter der Voraussetzung, dass eine echte und breite Zustimmung der Bevölkerung besteht und die ganze Bev. entsprechend geschult und vorbereitet ist Dem äuß. Feind glaubwürdig machen, dass eine Invasion ihm keinerlei Nutzen bringen würde.
3. Erfahrungen mit der gewaltfreien Aktion
3.1. Mahatma Gandhi
In Südafrika lebte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine indische Minderheit, die als kleine Kaufleute und Kontraktarbeiter auf Zuckerplantagen besonders unterdrückt wurden. Sie waren praktisch leibeigene, mit einer hohen Kopfsteuer belegt, nicht wahlberechtigt, unterlagen Wohnsitzbeschränkungen und einem nächtlichen Ausgangsverbot. Ihre Ehen wurden für ungültig erklärt. In Eisenbahnen wurden sie diskriminiert.
Unter diesen Bedingungen führte Gandhi seit 1894 Aktionen an, die von legaler Agitation bis zu gewaltlosen Kampagnen offener Gesetzesübertretung reichten. Er entwickelte die Satjagraha, d.h. (unvollkommen übersetz) Kraft aus Wahrheit und Liebe. Diese Satjagraha-Bewegung wurde als Mittel des sozialen Kampfes eingesetzt. Aus Protest gegen demütigende Registrierungsbestimmungen kam es zu einer friedlichen Besetzung der Registrierungsstellen. Tausende Inder verbrannten ihre Registrierscheine, viele betrieben einen unkonzessionierten Straßenhandel, um ihre Verhaftung zwecks Überfüllung der Gefängnisse zu provozieren. Auch Gandhi wurde inhaftiert. Indische Frauen drangen in das Kohlenrevier von Transvaal ein und riefen die Bergleute zum Streik auf. Die Polizei setzte Peitschen und Schusswaffen gegen Streikende ein. Bei der Trauerfeier für die Ermordeten legte Gandhi für immer seine europäische Kleidung ab. Er gründete die Tolstoi-Farm, nachdem er schon eine andere Gemeinschaftssiedlung ins Leben gerufen hatte. Als die weißen Eisenbahner streikten, blies Gandhi einen geplanten Marsch ab, weil er nicht die Schwächen des Gegners für seine Interessen ausnutzen wollte. Mit dieser Geste gewann er die öffentliche Meinung, die die Regierung so sehr unter Druck setzte, dass sie die Kopfsteuer abschafften und die indischen Ehen wieder für gültig erklären mussten.
Seit 1914 führte Gandhi seinen Kampf in Indien als Befreiungskampf gegen die britische Kolonialmacht weiter. Er begann mit einem Boykott britischer Textilprodukte, indem in den Dörfern Spinnrad und Handwerksstuhl wieder eingeführt wurden. Mit ihrem handgearbeiteten Tuck gelang es den Indern, das britische Textilmonopol zu brechen. Diese Kampagne ging einher mit einer Sanierung der verkommenen Dörfer.
1918 verließ die Regierung die „Rowlatt Bill“, ein Gesetz mit schweren Strafen gegen als Befreiungskämpfer Verdächtige, geheimen Prozessen ohne Berufungsrecht.
Gandhi rief zu einer nationalen Satjagraha auf, die in Form eines Hartals, eine Art Generalstreik einschließlich Ladenschließung, Protestkundgebungen, Verbreitung verbotener Schriften u. a. Gesetzesübertretungen, durchgeführt wurde. Die Kolonialregierung antwortete mit Gewalt. Gandhi versuchte, jede Aktion genau abzugrenzen und von zuverlässigen, ausgebildeten und berufenen Kräften zu führen. Diese Satjagrahis hatten gleichzeitig die Funktion von Lehren, Friedensstiftern und landwirtschaftlichen Beratern. Zahllose Inder forderten ihre eigene Verhaftung heraus. Auch Gandhi wurde wiederholt inhaftiert und trat dann oft in Hungerstreik. Das brachte die Regierenden wegen seiner großen Popularität jedes Mal in arge Verlegenheit. Weitere Formen des gewaltfreien Kampfes waren Steuerstreik und Nichtzusammenarbeit, wobei Gandhi große Flexibilität zeigte. Er arbeitete von Fall zu Fall auch mit den Engländern zusammen. 1930 verkündete er die indische Unabhängigkeitserklärung.
Um gegen die Salzsteuer anzugehen, machten sich 79 Freiwillige, denen sich Tausende anschlossen, auf den Weg, um an der 241 Meilen entfernten Küste entgegen den Gesetz Salz aufzuheben. Daraufhin begannen die Inder überall, Salz selbst herzustellen. Gesetzgeber und Behörden waren machtlos, Soldaten weigerten sich, auf die Demonstranten zu schießen, 60 000 Menschen wurden verhaftet, und trotzdem besetzten wieder andere sogar die Regierungs-Salzwerke.
Zur Versöhnung zwischen Hindus und Moslems und zur Abschaffung des Kastensystems mit dem entwürdigenden Status der Unberührbaren fastete Gandhi mehrmals und pilgerte 1200 Meilen durch das Land. Die Briten hatte er nach und nach durch die ehrenvolle und gewaltfreie Form seiner Aktionen sozusagen bekehrt, so das sie ihren imperialistischen Herrschaftswillen gegenüber Indien aufgaben. Hauptsächlich durch Gandhis Einfluss wurden sie ihrer Kolonie überdrüssig. Nach dem II. Weltkrieg entließ Großbritannien als Ergebnis von Verhandlungen Indien in die Unabhängigkeit.
Die Gestaltung des neuen Indien konnte Gandhi sehr wenig beeinflussen. Er äußerte sich besorgt über die Militarisierung Indiens. Seine Vorstellung war, im Falle einer Invasion Friedensbrigaden ausziehen zu lassen, die sich dem Aggressor unter Verzicht auf Gewalt entgegenstellen sollten. Er verwarf auch den Machtzuwachs des Staates, der wohl die Ausbeutung verringerte, aber die Individualität vernichtete. Gandhi selbst hatte niemals nach der Macht gestrebt, was einmalig unter allen Revolutionären ist. Er war niemals Vorsitzender der Kongresspartei, sondern blieb immer Vermittler zwischen Partei und Volk.
3.2. Martin Luther King
Fast 100 Jahre waren vergangen seit Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika durch Präsident Abraham Lincoln. Aber noch immer standen die USA im Schatten der Rassentrennung und –diskriminierung an Arbeitsplätzen, Bildungsstätten, in Verkehrsmitteln, öffentlichen Einrichtungen, Geschäften und Gaststätten, im Zeichen der Feindschaft zwischen Weiß und Schwarz. 1955 kam in Montgomery/Alabama, ausgelöst durch einen diskriminierenden Vorfall in einem Bus zu einem Busboykott durch die farbigen Einwohner, dessen Leitung dem jungen Baptistenpfarrer Martin Luther King übertragen wurde. Während einer Versammlung in der Kirche sagte er: „Wir sind es müde gedemütigt, müde herumgestoßen zu werden.“ 381 Tage hielten die Neger der Stadt den Boykott durch, bis die Busgesellschaft dem Bankrott nahe war und das Oberste Gericht die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln für verfassungswidrig erklärte. Diesem Ereignis folgten Demonstrationen, gewaltlose Direktaktionen, Verhandlungen und Prozesse im ganzen Land. Durch „sit ins“ (mit Sitzstreik [gewaltfreie Besetzung] unvollkommen übersetzt) in Imbißstuben und Gaststätten, „read ins“ in Büchereien, „kneel ins“ in Kirchen (am Mississippi beten die Christen getrennt), „swim ins“ in Badeanstalten, „shop ins“ in Läden wurden nach und nach ursprünglich nur Weißen vorbehaltene Einrichtungen integriert. In Demonstrationen protestieren die Farbigen gemeinsam mit sympathisierenden Weißen gegen Unrecht und Unterdrückung, von King immer wieder aufgerufen, Polizei- und Rassistenterror nicht mit Gewalt zu beantworten. Unter den Augen von Kameras und Reportern ging die Polizei teilweise mit Wasserwerfern und Hunden gegen die singenden und betenden Demonstranten vor , was wiederum die Sympathien für die Neger in der weißen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit vermehrte.
In den Südstaaten besaßen nur ca. 10% der wahlberechtigten Neger tatsächlich das Stimmrecht. Durch gewaltfreie Aktionen während mehrerer Wahlkampagnen gelang es ihnen, z.B. in Süd-Carolina die Zahl der stimmberechtigten Neger in zwei Jahren zu vervierfachen, in Texas innerhalb von 90 Tagen zu verdoppeln und somit mehr Angehörige ihrer Rasse in öffentliche Stellungen zu wählen. Auch die „Nichtzusammenarbeit mit dem ungerechten System“ und die Aufforderung zur Nichtbefolgung ungerechter Gesetze gehörten zu Kings Strategie im Bürgerrechtskampf.
Für viele Weiße erschien die zunehmende Desegregation unerträglich: Drohbriefe, Bombenanschläge, rassistischer Terror waren die Antwort. King entgegnete: „Wir müssen unsere weißen Brüder lieben, gleichgültig, was sie uns antun“.
Im Verlauf der Auseinandersetzung kam es zu Massenverhaftungen und Verhaftung der Führer der Bürgerrechtsbewegung. Einen Höhepunkt erreichte der Bürgerrechtskampf 1963. Mehr als eine Million Demonstranten bevölkerten in diesem Sommer die Straßen der USA. In Birmingham kam es zu 14 000 Verhaftungen. In einem Brief aus dem Gefängnis in Birmingham schrieb King an konservative Geistliche, die ihm vorgeworfen hatten, ein Extremist zu sein: „War nicht Jesus ein Extremist der Liebe, als er forderte: Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen, segnet, die euch verfluchen? War nicht Martin Luther ein Extremist, als er erklärte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders? . . . Werden wir Extremisten für die Fortdauer der Ungerechtigkeit oder für die Ausweitung der Gerechtigkeit sein? Es mag wohl sein, daß der Süden, unser Volk, ja die ganze Welt schöpferische Extremisten bitter nötig haben!“
Im August 1963 formierten sich 250 000 Menschen aus fast jedem Staat der Union zu einem Marsch auf Washington, wie ihn die Hauptstadt noch nicht erlebt hatte. Die Regierung mußte einen eindrucksvollen Gesetzesentwurf an die Spitze aller im Kongreß zu beratenden Anträge setzen.
In Chicago organisierte King einen „umgekehrten Streik“ in Form von Mietboykott und Selbstrenovierung der von den Hausbesitzern vernachlässigten Häusern und Wohnungen. Er hatte dort selbst eine ärmliche Wohnung bezogen. „Ich wollte kein Zuschauer sein, ich wollte dort stehen, dort mittun, wo die Dinge sich entscheiden.“ Martin Luther King vertrat die Auffassung: „Wahre Religion muß sich auch um die sozialen Verhältnisse kümmern. Sie hat es mit beiden, Himmel und Erde, mit Zeit und Ewigkeit zu tun.. Sie versucht nicht nur die Menschen mit Gott, sondern auch die Menschen untereinander zu vereinen.“
Der Bürgerrechtskampf war nicht frei von Rückschlägen und Niederlagen. Doch nach und nach konnten einige bestehende gerechte Gesetze praktisch durchgesetzt, die ersten Bürgerrechtsgesetze seit etwa 80 Jahren erlassen und eine ganze Reihe Rechte für die Farbigen erkämpft werden.
Martin Luther King mahnte seine Mitstreiter immer wieder zur Gewaltlosigkeit. Er hatte auf dem Hintergrund der Bergpredigt die Methode Gandhis zum gewaltfreien Kampf für sein Volk übertragen. Während das indische Volk gegen eine Minderheit englischer Kolonialherren zum gewaltlosen Kampf angetreten war und so schließlich seine Unabhängigkeit errungen hatte, wagten sich die Afroamerikaner als Minderheit, von etwa 11% des amerikanischen Volkes, mit gewaltfreien Mitteln an die weiße Mehrheit der USA heran.
Daß auch mit einem solchen Kräfteverhältnis Erfolge erzielt werden können, war das Neue und Verblüffende an Kings Kampf.
Sein Ziel war, durch die Methode des gewaltfreien Kampfes die weiße Mehrheit zum Umdenken zu bewegen. Er hielt die Gewaltlosigkeit für „zweckmäßig, vernünftig und moralisch vortrefflich.“
Immer stärker sah er den Kampf um Rassengleichheit als Teil des Friedenskampfes an und engagierte sich zunehmend in der Weltfriedensbewegung. 1964 wurde King der Nobel-Friedenspreis verliehen. In seiner Nobelpreisrede „Die neue Richtung unseres Zeitalters“ (1965 im UNION Verlag erschienen) sagte King: „Die Zeit ist gekommen für einen mit aller Macht geführten Weltkrieg gegen die Armut!“ und „Die Tatsache, daß die Menschen die Gefahr eines Atomkrieges die meiste Zeit aus ihren Hirnen verbannen, ändert das Wesen und die Gefahr eines solchen Krieges nicht“, „Wir müssen den Rüstungswettlauf in einen Friedenswettlauf verwandeln.“
Auf Martin Luther King waren schon drei Attentatsversuche verübt worden. Er selbst sagte: „Wenn ihr mich eines Tages tot auffinden werdet, sollt ihr auf keinen Fall Gewalt gegen Gewalt setzen und mich rächen! Ich bitte euch inständig, dann den Protest mit derselben Disziplin weiterzuführen wie bisher!“ 1968 begab sich King nach Memphis/Tennesee, um den dortigen Müllerarbeiterstreik zu unterstützen. Dort traf ihn am 4. April die Kugel des Mörders.
Im kanadischen Rundfunk hatte King Ende 1967 eine Reihe von Reden gehalten, die zusammengefaßt unter dem Titel „Aufruf zum zivilen Ungehorsam“ veröffentlicht wurden. Darin entwickelte er Theorie und Strategie seines Kampfes so weiter, daß sich die Bürgerrechtsbewegung zwar weiterhin der physischen Gewalt gegen Menschen enthalten, aber als Massenbewegung das amerikanische Gesellschaftssystem mitten ins Herz treffen sollte: „Die Neger müssen daher nicht nur ein Programm formulieren, sie müssen neue Taktiken ausarbeiten, die nicht mit dem guten Willen der Regierung rechnen, sondern widerwillige Behörden zu zwingen vermögen, sich den Forderungen der Gerechtigkeit zu beugen… Der gewaltlose Protest muß jetzt reif werden für eine neue Stufe… Diese höhere Stufe besteht im bürgerlichen Massenungehorsam… Bürgerlicher Massenungehorsam kann den tiefen Zorn des Ghettos in eine aufbauende, schöpferische Kraft umwandeln. Das Funktionieren einer Stadt zu stören, ohne sie zu zerstören, kann wirkungsvoller sein als ein Aufstand, denn es kann länger dauern und die große Gesellschaft teuer zu stehen kommen, ohne daß böswillig Schaden angerichtet wird . . . Damit wollte ich nur zeigen, daß Gewaltlosigkeit zwar erfolgreich sein wird, aber erst dann, wenn sie die Massendimension, die disziplinierte Planung und die intensive Hingabe einer anhaltenden, unmittelbar wirkenden Bewegung zivilen Ungehorsams von nationalem Umfang erreicht.“
King hatte die kühne Idee, amerikanische Großstädte durch gewaltlose Direktaktionen lahmzulegen und erhoffte sich davon eine große Wirksamkeit. Für 1968 war ein gewaltiger „Marsch der Armen“ nach Washington geplant, der Verkehrsmagistralen, Ministerien und Verwaltungen blockieren, die ganze seelenlose Funktion der bürokratischen Maschinerie in der Bundeshauptstadt stören sollte. King hatte gesagt: „Unser Programm ruft zur Neuverteilung der ökonomischen Macht auf.“
Unter diesen Perspektiven der Bürgerrechtsbewegung sah sich der USA-Imperialismus aufs äußerste gefährdet. Er fürchtete wohl, daß 1968 der 39jährige King erst am Anfang seines Kampfes stehen könnte, und er wußte, daß er für den Großteil der Afroamerikaner als ein Prophet galt, der sein Volk über den Jordan führen sollte. Der „Marsch der Armen“ fand wohl statt, aber unter dem Schock des Verlustes ihres „Moses“ verlief die Aktion nicht wie geplant, wenn auch nach 73 Tagen des gewaltfreien Protestes in über 1000, vor dem Lincoln-Memorial in Washington aufgeschlagenen ärmlichen Hütten, der „Stadt der Auferstehung“, eine Ernährungshilfe für 256 Regierungsbezirke und 100 000 neue Arbeitsplätze für Farbige zugesichert wurden.
Rückschauend muß man anerkennen, daß in den wenigen Jahren von Kings Wirksamkeit mehr erreicht wurde als in 100 Jahren bewaffneten Aufständen, und in zehn Jahren gewaltfreien Protestes unter King im Süden der USA waren weniger Opfer zu zählen als in den zehn Jahren des Aufruhrs im Norden. Man kann aus der Ermordung Kings und der nachfolgenden Stagnation der Bürgerrechtsbewegung in den USA nicht ableiten, daß die Gewaltlosigkeit gescheitert oder tot sei. Auch die Black Power, die Black Panther Party und andere militante Bürgerrechtsorganisationen konnten mit Mitteln der Gewalt in den letzten Jahren in den USA keine nennenswerten Erfolge erzielen. Um 1970 kamen die „Black Panthers“ davon ab, in schwarzen Lederjacken mit umgehängter Maschinenpistole durch nächtliche Straßen zu patroullieren. Der Reifeprozeß der Black Panther Party hatte Kontakte zu den Gewerkschaften, Arbeit in den Ghettos, die Einrichtung gebührenfreier Kranken-häuser für Arme zum Ergebnis. So kamen sich eigentlich gemäßigte und militante Negerorganisationen näher. Die seinerzeit von King gegründete Southern Christian Leadership Conference arbeitet heute nicht mit spektakulären Massenaktionen, sondern kümmert sich auch mehr im Verborgenen um soziale Probleme der Afroamerikaner und anderer benachteiligter Minderheiten in den USA. Sie leistet Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung, analysiert die Einkommensverteilung der Landbe-völkerung, versucht den Anteil der Schwarzen als Sheriffs, in Gerichten, Kreisverwaltungen und Schulen zu erhöhen entsprechend dem prozentual hohen Bevölkerungsanteil der „Afros“ in den Südstaaten, organisiert Gefangenenbetreuung, unterstützt Arbeitslose, beteiligt sich finanziell an einem Bekleidungswerk mit günstigen Arbeitsbedingungen für Farbige.
Seit dem Busboykott 1955 arbeitet die „Liga der Kriegsgegner“ in den Vereinigten Staaten eng mit der Bürgerrechtsbewegung zusammen. Sie hatte einen hohen Anteil daran, den Vietnamkrieg innerhalb der USA äußerst unpopulär zu machen, was wiederum einer der Gründe dafür war, weshalb die USA schließlich und endlich diesen Krieg aufgegen mußten.
In Palo Alto, Kalifornien, wurde durch die Sängerin Joan Baez und andere Sympathisanten Kings ein „Institut zum Studium der Gewaltlosigkeit“ gegründet, daß ausschließlich aus Spendenmitteln finanziert wird. Es handelt sich um eine Schule, die durch Tagungen und Kurse gegen eine kollektive Interessenlosigkeit angeht und Teilnehmer für gewaltfreie Aktionen praktisch vorbereitet. Ähnliche Einrichtungen gibt es auch in anderen Teilen der USA. Es sind meist nur zahlenmäßig kleine Gruppen, die aber doch eine intensive Basisarbeit leisten und zu den Keimzellen der heutigen starken USA-Friedensbewegung wurden.
3.3. Sonstige historische Beispiele
… (hier wurde der gewaltfreie Widerstand der Tschechen und Slowaken gegen die Invasion der Warschauer-Vertrags-Truppen zur Niederschlagung des politischen „Prager Frühlings“ 1968 geschildert mit dem Fazit, daß dieser spontane Widerstand, nicht geplant und durch eine unvorbereitete Bevölkerung durchgeführt, nicht gescheitert ist, sondern auf Verlangen der existenziell unter sowjetischen Druck geratenen eigenen Führung abgebrochen wurde. Dieser mündlich mit vorgetragene Passus wurde 1981 aus Sicherheitsgründen nicht mit vervielfältigt.
3.4. Die kalifornische Farmworker Bewegung
Die ärmste Bevölkerungsgruppe in den Vereinigten Staaten sind die mexikanischen Landarbeiter im äußersten Süden. Sie waren als Saisonarbeiter ausgeschlossen von Tarifverträgen, Arbeitslosen-, Kranken- und Altersversicherung, Wohlfahrtsunterstützung, bezahltem Urlaub und gewerkschaftlicher Organisierung. Unter der Leitung von Cesar Chavez organisierten die Traubenpflücker und Kopfsalatarbeiter mit Unterstützung der Kirchen einen fünf Jahre dauernden Streik, den längsten in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung. Sie gründeten gegen erbitterten Widerstand eine Gewerkschaft, die „United Farm Workers“ UFW, Vereinigte Landarbeitergewerkschaft. Durch gekaufte Streikbrecher, 6000 Verhaftungen und starkem Terror gegen Streikposten war der Landarbeiterstreik nicht voll wirksam. Deshalb ergänzte ihn die Bewegung um Chavez durch Aufforderungen an alle Supermärkte in den USA, Salat und Trauben aus Kalifornien nicht mehr zu übernehmen. Da die größten Supermarkt-Ketten zu den Plantagenbesitzern hielten, warben 600 streikende Landarbeiter zusammen mit 400 Freiwilligen in den Städten der USA, Kanadas und Großbritanniens für einen Käuferboykott gegen die kalifornischen Agrarprodukte. Die Supermärkte und das Agrobussiness erlitten starke Verluste. Durch gewaltfreie Aktionen gelang es auch, den Gouverneure von Arizona abzuwählen und bei einer Volksabstimmung in Kalifornien Anti-UFW Gesetzesvorschläge abzulehnen. So konnte erreicht werden, dass der größte Teil der amerikanischen Traubenindustrie Verträge mit der UFW abschloss, die Plantagenbesitzer Lohnerhöhungen zustimmten, bezahlte Feiertage, Urlaub, eine Alters- und Gesundheitsversorgung einführen mussten. Unterstützt wird der weiterhin anhaltende gewaltlose Kampf der US-Farmworkers auch durch die Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste aus der Bundesrepublik Deutschland.
3.5. Die französische Bauernbewegung in Larzac
Ein Beispiel nennenswerter gewaltloser Bewegungen neben den bekannten Sozialbestrebungen in Riesi/Sizilien aus dem Bereich Westeuropas ist der seit 1971 anhaltende Widerstand von 103 Bauern der Larzac-Hochebene in Südfrankreich gegen einen geplanten Truppenübungsplatz, um 14 000 ha landwirtschaftliche Fläche, auf der in den vergangenen 10 Jahren eine Verdoppelung der Anbaubarkeit und der Milchproduktion gelungen war. Arbeiter, Kriegsdienstverweigerer, engagierte Christen und Umweltschützer unterstützen die Bauern des Larzac. Der gewaltfreie Kampf der Franzosen kennt phantasievolle Formen. Unter dem Eifelturm in Paris ließen die Bauern ihre Schafe „demonstrieren“, schickten ihre Militärpässe an das Verteidigungsministerium zurück, bestellten Äcker, die schon die Armee in Beschlag genommen hatte, verweigerten Steuerzahlungen und gründeten landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Bis zu 150 000 Menschen demonstrierten auf der Ebene des Larzac. Der Kern des Widerstandes schloß sich in der von Lanza del Vasto, einem ehemaligen Mitarbeiter Gandhis, gegründeten „Gemeinschaft der Arche“ zusammen. Würdenträger der katholischen Kirche und Vertreter von Linksparteien solidarisierten sich, z.T. durch Fasten und Hungerstreiks, mit den Bauern. Eine Maoistische Gruppe versuchte vergeblich, die antimilitaristische Bewegung in gewaltsamen Kampf umzufunktionieren. Die Bauern aber demonstrierten mit ihren Traktoren bis nach Paris, ketteten sich zusammen, sprengten einen Jahresball der Offiziersmesse. Der Erzbischof und fast alle Pfarrer der Umgebung außer dem Ortspfarrer, der gleichzeitig Militärgeistlicher ist, hielten zu den Bauern.
An einem „Tag der offenen Bauernhöfe“ widerlegten die Landwirte das Zerrbild des französischen Fernsehns einer öden Steinwüste und verlassener Höfe. Zahlreiche gewaltfreie Aktivisten halfen den Bauern, nicht nur bei Aktionen, sondern auch bei der täglichen Arbeit, wobei auch Schulungsarbeit und Bewußtseinsbildung geleistet wird. Antimilitarismus- und Ökologie-Aktionsgruppen aus anderen Landesteilen, die Linksgewerkschaft OFDT und die Kirche sympathisierten mit den Landwirten. Auf dem als Artillerie-Schießplatz vorgesehenen Gelände errichteten Freiwillige in unentgeltlicher Arbeit einen Gemeinschaftsschafstall für 1000 Schafe. Als das erste kollektive Feld auf dem Larzac geerntet werden konnte, wurde von fast 150 000 Menschen unter dem Motto „Getreide bringt Leben – Waffen bringen Tod“ ein Erntedankfest gefeiert, dessen Erlös den Dürregeschädigten der Sahelzone Afrikas zugute kam. Als die Bauern der Gegend auf die Rathäuser zur Gegenzeichnung der Enteignungsunterlagen bestellt wurden, kam es zu Rathausbesetzungen und Vernichtung der Akten durch Demonstranten. Vorher war es einem Kollektiv gelungen, über 300 ha Land von der Armee aufzukaufen, in landwirtschaftlichen Gemeinbesitz zu überführen, durch Anteilscheine die Zahl der Enteignungsverfahren zu vertausendfachen. In ganz Frankreich demonstrierten 1974 Sympathisanten der Schafzüchter. Die Armee versuchte in den folgenden Jahren, durch spekulative Angebote vom 10fachen des Bodenwertes und durch Gewaltsame Übergriffe, die Einheit der Bauern und ihrer Freunde aufzuweichen. Alljährlich im August erhielt der andauernde gewaltlose Widerstand der Landwirte Auftrieb durch eine Großdemonstration.
3.6. sonstige gegenwärtige Beispiele
Während die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika und in Lateinamerika zum großen Teil mit gewaltsamen Mitteln operierten, gibt es dort auch wie in Nordamerika und Westeuropa Alternativgruppen, die gewaltlos ihre Ziele verfolgen und sich dabei z.T. ausdrücklich auf Gandhi und King berufen. Ihre Probleme und… (eine Zeile unleserlich) Kampf gegen Diskriminierungen aus rassischen, religiösen, politischen Gründen, Unzufriedenheit mit bestehenden politischen und sozialen Strukturen über Umweltschutzprobleme bis zu Antimilitarismus-Aktionen.
4. Kennzeichen und Prinzipien der gewaltfreien Aktion
Es soll versucht werden, diese durch Gegenüberstellung von gewaltfreiem Akteur zum Revolutionär im herkömmlichen Sinn zu veranschaulichen.
4.1. Das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck
Zitate von Gandhi und King:
In der bewaffneten Revolution heiligt der Zweck die Mittel.
Im gewaltlosen Kampf „ist das Ziel von den Mittel geprägt“. (Gandhi) „Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon der Frieden ist“. (Martin Luther King)
„Wir werden niemals Frieden in der Welt haben, bevor die Menschen überall anerkennen, daß Mittel und Zweck nicht voneinander zu trennen sind: denn die Mittel verkörpern das Ideal im Werden, das Ziel im Entstehen, und schließlich kann man gute Zwecke nicht durch böse Mittel erreichen, weil die Mittel den Samen und der Zweck den Baum darstellen“. (Martin Luther King)
4.2. Das Verhältnis zum Gegner
Der klassische Revolutionär rechtfertigt den Hass gegenüber dem Gegner und dessen Diskreditierung. Der Gegner wird zum Feind erklärt, der gedemütigt, verletzt und letztlich vernichtet werden soll.
Der Satjagrahi trennt den Menschen von seinen Taten, das Böse von dem, der das Böse tut. Er achtet Freiheit und Würde des Gegners, übt Widerstand ohne Feindseligkeit. Der Vertreter der Gewaltfreiheit betrachtet den Gegner nicht als Feind. Er versucht, ihn zu beschämen, zu überzeugen, ihn umzustimmen, sein Verständnis zu gewinnen. Damit lässt er die Möglichkeit der Widergutmachung offen und hinterlässt keinen Hass. Der Gewaltlose versucht, die Feindesliebe, die neutestamentliche Agape, zu praktizieren. King sagte: „Wir müssen unsere weißen Brüder lieben, gleichgültig, was sie uns antun“. Diese Haltung wird oft belächelt und die Klarstellung, die King selbst formulierte, verschwiegen: „Wenn wir an dieser Stelle von Liebe sprechen, meinen wir damit nicht irgendein sentimentales oder zärtliches Gefühl. Es wäre Unsinn, wenn wir die Menschen auffordern wollten, ihre Unterdrücker zärtlich zu lieben. Mit Liebe meinen wir in unserem Falle Verstehen, guten Willen, der erlösende Kraft hat. (Zeichen der Zeit S. 46/1965)
King zitierte auch gern den um die Jahrhundertwende lebenden Pädagogen und Negerführer Booker T. Washington mit dem Ausspruch: „Lass dich von niemanden so tief hinabziehen, dass du ihn hasst“.
4.3. Weitere Prinzipien und Kennzeichen
Die Revolution braucht eine mitgliederstarke Kampfpartei mit autoritären Führern. In der gewaltfreien Bewegung ist die Verbindung zwischen Führern der Bewegung, einer Partei einerseits und der Bevölkerung andererseits nicht institutionalisiert. Das Individuum kann in Zusammenarbeit mit anderen, ja sogar auf eigene Faust, moralische Kräfte entfalten, die eine Veränderung des geistigen und der Gesellschaft bewirken.
Der Revolutionär gibt sich als loyaler Bürger und arbeitet konspirativ (geheim, im Untergrund) gegen die bestehende Ordnung. Der Satjagrahi lehnt verschwörerische Guerillamethoden ab, arbeitet so weit wie möglich offen, kündigt oft sogar seine Aktionen vorher an.
Der Revolutionär kämpft aus Prinzip bis zum Ende, selbst bis zum bitteren Ende, also auch wenn ihm seine Unterlegenheit bewußt wird. Der Gewaltlose hat den Mut, eine Aktion sofort abzubrechen, wenn Wege zu Abwegen wurden.
Armee und Revolution brauchen nur gesunde Leute mit einem gewissen Mindestalter. In der gewaltfreien Aktion ist Platz für jeden, der mitmachen will. King berichtet von Kindern, Jugendlichen, Behinderten, einem blinden Sänger, die von keiner Armee irgendeines Landes angenommen worden wären, aber in den Reihen der Bürger-rechtsbewegung eine führende Stellung einnahmen. („Warum wir nicht warten können“ S. 42 f, S. 78)
Eine Armee zerfällt in Dienstränge oder Kasten, in der gewaltfreien Aktion ist jeder gleichberechtigt. (s. o. S. 43)
Die Revolution strebt nach der Macht. „Die Gewaltlosigkeit strebt nicht nach der Macht“. (Gandhi) Das Ziel ist nicht der Sieg, sondern Gerechtigkeit und Versöhnung.
Die gewaltlose Bewegung ist sehr flexibel in Bezug auf Zusammenarbeit und Nichtzusammenarbeit mit dem System. Das ist für die Gegenseite schwer begreifbar, muß aber immer wieder deutlich gemacht werden. Konstruktive Mitarbeit, Kritik und kritische Nichtzusammenarbeit können durchaus zusammengehören. Zu den Kennzeichen und Prinzipien der Gewaltfreiheit gehören auch Opferbereitschaft, Verzicht auf Wohlstand, ein Höchstmaß an Zivilcourage, Selbstdisziplin, Selbstachtung und Bereitschaft, ein persönliches Risiko einzugehen, ein Beispiel freiwillig erduldeten Leidens zu geben, wenn nötig, Demütigungen ohne Rache hinzunehmen, Gewalttätigkeiten ohne zurückzuschlagen. „Halte die Augen offen, wende zum Guten, wo du es kannst, halte still, wo du hilflos bist.“
5. Plädoyer für die Gewaltfreiheit (Verteidigung, Rechtfertigung, Begründung)
Wenn man die politische und soziale Weltentwicklung seit 1966 verfolgt, muß man feststellen, daß Gewaltfreiheit auch in der zwischenstaatlichen Politik hin und wieder an verschiedenen Stellen deutlich wird. Bi- und multilaterale Verträge auch zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung enthalten Verpflichtungen zum Gewaltverzicht. 1978 unterbreitete die SU vor der UNO einen Vorschlag für eine internationale Gewaltverzichts-Konvention. Trotzdem regiert in Krisenherden zwischen und innerhalb von Staaten noch immer die Gewalt.
Kriege werden seit Jahrhunderten geführt, erforscht, analysiert, taktisch, strategisch, technisch mit unermeßlichem materiellen Aufwand weiterentwickelt und perfektioniert. Heute sind wir damit so weit, daß wir sagen müssen: „Unsere Zukunft ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit“, wie es Prof. Fritz Baade einmal formulierte.
Die Gewaltlosigkeit einschließlich der gewaltfreien, nationalen, der sogenannten sozialen Verteidigung stehen erst am Anfang einer Entwicklung … sie sind bisher kaum erprobt und erforscht.Vielleicht könnten sie mit einem Bruchteil der für militärische Aufgaben aufgewendeten Investitionen zu einem für die Zukunft global wirksamen Instrument zur Lösung von Konflikten werden.
Der Moskauer Amerika-Korrespondent der „Iswestija“ schreibt in seinem Buch „Martin Luther King“: „Die Antikriegshaltung von Dr. King entsprang dem Pazifismus eines Geistlichen und eines Vertreters der Gewaltlosigkeit. Seine Meinung war, daß in den internationalen Beziehungen des Kernzeitalters die wahre Alternative nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit liege, sondern zwischen Gewaltlosigkeit und Nichtsein.“
Martin Luther Kings Mahnung „Wenn wir es nicht lernen, miteinander als Brüder zu leben, werden wir als Narren miteinander untergehen“ ist heute ernster zu nehmen als je, und wir sollten das wenige, was wir zur Schaffung einer brüderlichen Welt beitragen können, wirklich tun. Dabei muß Effektivität nicht unbedingtes Kriterium sein, schon Zeichensetzung ist wichtig. Durch phantasievolle und erfinderische Versuche könnten Erfahrungen gesammelt werden. Schon das Ausnutzen und Ausloten bestehender Gesetze und Möglichkeiten wird vielfach versäumt.
King bezeichnete die Gewaltlosigkeit als „zweckmäßig, vernünftig und moralisch vortrefflich“. Er sagte auch: „Unsere Welt kann vor dem Untergang, auf den sie zustrebt, nicht durch die willfährige Anpassung der konformistischen Mehrheit gerettet werden, sondern nur durch die schöpferische Nicht-Anpassung der nonkonformistischen Minderheit“. Das Mittel für dieses sicher nicht sinnlose Engagement kann die gewaltfreie Aktion sein.
Die gewaltfreie Aktion hat auch ihre Grenzen. Zum Beispiel erfordert sie meist lange Zeiträume und hat kaum Aussicht auf Erfolg, wenn man es mit einem Erbarmungslosen, totalitären Gegner zu tun hat. Allerdings ist dann gewaltsamer Widerstand meist auch aussichtslos.
Das Beispiel Indien zeigt, daß die Befreiung eines ganzen Volkes ohne Gewalt möglich ist. Indiens Befreiungskampf kostete bei einer Bevölkerungszahl von 350 Millionen 5000 Menschenleben. Dagegen wurden bei der gewaltsamen Befreiung Algeriens mit 12 Millionen Einwohnern 200 000 Menschen getötet. Das ist prozentual gerechnet die 750fache Zahl an Opfern. So ist die Gewaltlosigkeit eine lebensfähige revolutionäre Alternative zur bewaffneten Revolution mit einem Minimum an Blutvergießen. Eine gut geführte zivile Widerstandsbewegung kann einen an Zahl und Macht überlegenen Gegner in Verlegenheit bringen und die öffentliche Meinung mobilisieren. Die gewaltfreie Aktion kann aus der Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit, von Krieg und Gewalt, aber auch von Gleichgültigkeit und Resignation herausführen.
Selbst im persönlichen Bereich läßt sie neue Hoffnung erwachsen und, wie Gollwitzer es ausdrückte, „Resis“ zu „Spontis“ werden.
Georg Meusel
(Das Referat wurde, vor allem im Schlußteil, geringfügig überarbeitet) (1981)
Die Thematik wurde 1979, das die Außerordentliche Tagung des Weltfriedensrates in Berlin zum Martin-Luther-King-Jahr erklärt hatte, anläßlich Kings 50. Geburtstag behandelt.
Nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch (…91123/5-81)
Handschriftliche Ergänzung:
Von Theodor Ebert wurde ein Versuch gemacht, die gewaltfreie Aktion zu systematisieren. Nach dieser Theorie werden die gewaltfreien Aktionsformen grundsätzlich in verneinende und konstruktive, bejahende, schöpferisch unterschieden. (Tabelle).
Damit wird zunächst einmal deutlich gemacht, daß es nicht genügt, einen Mißstand anzuprangern oder zu bekämpfen, sondern, daß ihm immer auch eine konstruktive Alternative entgegengesetzt werden sollte.
Für beides, die verneinende und die bejahende gibt es dann drei Steigerungsstufen.
1. Stufe: Protest als Verneinung,
das Aufzeigen von besseren Mögl.ichkeiten als Bejahung
Zur 1. Stufe gehören z.B. die BE (Baueinheiten der DDR)
Als Beschwerde ist sie die verneinende Form,
als Vorschlag formuliert, die bejahende
Beides kann wie am Beispiel Soft (Sozialer Friedensdienst) miteinander verbunden sein.
Eine Aktion kann aber auch beidesgleichzeitig beinhalten z.B. SOFT-Initiative (Kritik an BE, Vorschlag sozialer Dienst)
Eine Gegenstimme oder ungültige Stimme bei einer Wahl wäre verneinend, während Einflußnahme auf die Kandidatenaufstellung eine bejahende Initiative darstellt.
2. Stufe: Legale Nichtzusammenarbeit als Verneinung
Legale Rollenübernahme
(Erneuerung, Überführung von Erkenntnissen in die Praxis) als Bejahung
Beispiel: Legale Ablehnung des Wehrdienstes als Verneinung
Freiwilliger zeichenhafter Friedensdienst im GW (Gesundheitswesen) anschließend an den BS-Dienst (als Bejahung)
bejahende zivile Selbstverwalt.
3. Stufe:Verneinende Form: Ziviler Ungehorsam, offene Gesetzesübertretung
bejahende: Zivile Selbstverwalt(tung)
B(eispiele): Verneinung: Nichtteilnahme am WU entgegen Schulpflichtgesetz
Bejahende, konstruktive Form: verbotene Friedenskunde
Das Referat wurde unter DDR-Bedingungen gehalten, wo ja mit Propagierung des bewaffneten Befreiungskampfes, der bewaffneten Revolution und des gerechten Krieges entgegengesetzte Positionen gelehrt und vertreten wurden. Es wurde u.a. auch zu einem Friedensseminar in Frankenhausen bei Crimmitschau und zu einer Jahrestagung der Aktion Sühnezeichen vorgetragen.
Georg Meusel
Martin Luther King und seine Bedeutung für uns heute
Die neue Richtung unseres Zeitalters – Martin Luther Kings Traum von Gerechtigkeit, Gleichheit und Gewaltlosigkeit
zum 70. Geburtstag M. L. Kings am 15.01.1999
für das Martin-Luther-King-Zentrum für Gewaltfreiheit und Zivilcourage Werdau
Wenn ich mich richtig erinnere, ist das bürgerrechtliche Engagement Martin Luther Kings und seiner Freunde in der DDR nicht sofort zur Kenntnis genommen worden. Zwar war die Negerfrage immer abrufbar im Inventar der DDR-Propaganda – übrigens auch im kulturellen Leben, wenn ich an Paul Robeson denke, an das Schauspiel “Hotelboy Ed Martin” oder an die Rezeption des Werks des bedeutenden schwarzamerikanischen Wissenschaftlers William Du Bois, der übrigens in Berlin studiert und dessen Memoiren Jürgen Kuczynski herausgegeben hatte. Andrerseits konnte die DDR-Propaganda aber auch auf ganz anderen Klaviaturen spielen und etwa bei Schilderung von “Besatzerwillkür der US ARMY” womöglich auf Negersoldaten populistisch abheben, und auch im ideologischen Kampf gegen den Amerikanismus, den American Way of Life, gegen bestimmte Erscheinungsformen des Jazz usw., spielte diese Nuance eine Rolle. So oder so war jedenfalls die Negerfrage integraler Bestandteil des Kampfes gegen den amerikanischen Imperialismus. Dies bekam jeder zu spüren, der – so oder so – in solchen Fragen eine eigene Meinung formuliert: Als etwa um 1949/50 der Dresdner Theaterkritiker und Schriftsteller Wolfgang Paul im liberaldemokratischen “Sächsischen Tageblatt” das Theaterstück zweier amerikanischer Kommunisten zur Negerfrage verriß, weil dieses seinerzeit viel gespielte Stück den ästhetischen und dramaturgischen Ansprüchen nicht genügte, mußte er gehen – er habe den Befreiungskampf der amerikanischen Neger verraten. Paul ging, aber sogleich nach Westberlin, wo er – zuletzt Präsident der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft – kürzlich verstarb.
Daß man MLK um 1960 in der DDR zur Kenntnis nahm, daß er in den Medien eine gewisse Rolle zu spielen begann, selektiv, wie es freilich allen Medien eigen ist, hatte damit zu tun, daß mit King und der Southern Christian Leadership Conference (oder jedenfalls erstmalig wieder ) eine effektive Bewegung entstanden war, die neue Tatsachen und Akzente im Bürgerrechts-Kampf zu setzen imstande war und die damit den herrschenden Kreisen in den USA zu schaffen machte. Und was den herrschenden Kreisen in den USA zu schaffen machte, mußte die Medien in der DDR interessieren.
Da es in der damaligen DDR-Führung noch einige Persönlichkeiten gab, die die USA als Emigrationsland kennengelernt hatten, neben dem terrible simplificateur Gerhart Eisler, Chef des Staatlichen Rundfunkkomitees, der differenzierender argumentierende und genauer beobachtende Albert Norden, war es interessant festzustellen, daß in dieser Kreisen (oder soll man sagen: sogar in diesen Kreisen ?) so etwas wie eine stille Bewunderung des Muts, vor allem der Strategie und Taktik von MLK und seiner Bewegung entstand.
Allerdings galten diese stille Bewunderung und die relativ laute Zustimmung der Medien mehr der Stoßrichtung der Aktionen Kings, nicht aber deren Methode. Gewaltlosigkeit war zweifellos eine Kategorie, die nicht auf die Normierungen des Klassenkampfes zu beziehen war, auch wenn eine Schrift zur Gewalttheorie von Friedrich Engels durchaus positiv hierbei in Anwendung hätte kommen können; in einem Vortrag in der Ostberliner Evangelischen Akademie habe ich dies jedenfalls einmal so getan. Generell war es aber leider so, daß die Gewaltlosigkeit von MLK oder die von Mahatma Gandhi (Satyagraha) in der DDR unter ideologischem Verdikt, in der Nähe des “schwächlichen Pazifismus”, stand. Dies war freilich ohnehin weniger Gegenstand der öffentlichen Diskussion, sondern mehr des Diskurses unter den Auguren, den Theoretikern des Marxismus-Leninismus.
Und wie war Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre das Echo auf MLK in den Kirchen der DDR? Hierzu muß man zwei Aussagen treffen:
1. Die Kirchen in der DDR standen damals in einem noch nicht abgeschlossenen Prozeß der Standortsuche und in permanenten Auseinandersetzungen mit dem Staatsapparat der DDR, so daß oft genug der Blick auf die eigenen Probleme den auf die in anderen Teilen der Welt verstellte.
2. Hinzu kam, daß es vor Gründung des Kirchenbundes in der DDR relativ wenige Kontakte von kirchlichen Persönlichkeiten in der DDR ins Ausland und speziell zur Ökumene gab, einmal wegen der soeben genannten innenpolitischen Gründe, dann aber auch deshalb, weil die ökumenischen Beziehungen der EKD vom Kirchlichen Außenamt in Frankfurt am Main maßgeblich bestimmt wurden. Nicht vergessen darf man überdies die Schwierigkeiten, die es damals mit DDR-Pässen und mit der notorischen Devisenknappheit in der DDR zu bewältigen galt. Schließlich wäre mit Blick auf MLK nicht ganz eine heute unbegreifliche, damals aber noch real wirksame Problematik zu berücksichtigen: MLK war Baptist, und das Verhältnis der Landeskirchen zu den Freikirchen war vor 40 Jahren noch nicht das beste, zumal die Behörden der DDR versuchten, ein gutes Verhältnis zu den Freikirchen gegen die Landeskirchen ins Spiel zu bringen.
Alle diese einschränkenden Bemerkungen hatten keine Bedeutung für einen Bereich des kirchlichen Dienstes, für den publizistischen. Sowohl in den Gemeindeblättern wie vor allem in der Monatsschrift “ Die Zeichen der Zeit” traten ökumenische Probleme in herausragender Weise in Erscheinung, und insbesondere der Chefredakteur der “Zeichen der Zeit”, Gerhard Brennecke, war geradezu avantgardistisch in der Vermittlung ökumenischer Erfahrungen an die Gemeinden in der DDR , darunter auch aus dem Umfeld der sog. Jungen Kirchen und der Negerbewegung. Es ist daher auch kein Zufall, wenn schon 1968 in der Evangelischen Verlagsanstalt ein Buch über MLK herauskam, das mit Anneliese Vahl (heute: Vahl-Kaminski) eine Mitarbeiterin der “Zeichen der Zeit”, zur Verfasserin hatte.
Solche publizistische Aktivitäten der Kirche, die Meldungen in den DDR-Medien und – nicht zu vergessen – die Berichte aus dem von Herrn von Schnitzler so genannten Schwarzen Kanal faszinierten damals vor allem junge Christen, so daß in den Evangelischen Studentengemeinden und in den Jungen Gemeinden MLK so etwas (ich sage es mit Vorbehalt) wie eine Kultfigur wurde.
Mit 1963, mit dem Marsch auf Washington und mit der Unterzeichnung der Bürgerrechtsgesetze durch Präsident John F. Kennedy zum 100. Jahrestag der Emanzipationserklärung Abraham Lincolns, war gleichsam eine neue Qualität der Negerbewegung in den USA im allgemeinen und ihres charismatischen Führers MLK im besonderen entstanden. Dies wirkte sich übrigens einerseits dahingehend aus, daß andere, traditionelle Abteilungen der amerikanischen Negerbewegung wie der NAACP sich in mancher Hinsicht den Alternativen Kings annäherten, während auf der anderen Seite – nicht ohne Zusammenhang mit der weltweiten antiautoritären Studentenbewegung – mit den Black Muslims eine gewaltsam operierende Organisation sich massiv von MLK abgrenzte. Wenn also nach 1963 in der DDR über die USA gesprochen wurde, dann war wie selbstverständlich auch von MLK die Rede; er war in einem geradezu atemberaubenden Tempo zu einer der repräsentativsten Persönlichkeiten der USA geworden. Die Meldungen über die Verleihung des Nobelpreises 1964 waren denn auch nicht überraschend….
Auf dem Weg nach Oslo zur Entgegennahme dieses Preises besuchte MLK West- und Ostberlin. Es war bezeichnend, daß die Marienkirche, wo King predigen sollte, schon lange vor Beginn des Gottesdienstes überfüllt war, so daß ein weiterer Gottesdienst in der nahegelegen Sophienkirche anberaumt werden mußte. Bezeichnend war freilich auch, daß die, die den fernen MLK stets zu loben bereit waren, jetzt hinsichtlich des nahen Sorgen hatten: Würde das bürgerrechtliche Potential Kings womöglich inspirieren zu analogen Haltungen und Aktivitäten in der eingemauerten Stadt? Und es gab wohl auch in kirchlichen Kreisen eher konservativer Orientierung eine Sorge anderer Art, ob nämlich so etwas wie eine charismatische, die Grenzen der Kirchlichkeit sprengende Option von hier aus um sich greifen könnte. Beide Seiten sorgten sich indes umsonst: Es war die biblische Botschaft, die MLK, einer der großen Prediger dieses Jahrhunderts, verkündigte, nichts anderes. Immerhin blieb auf beiden Seiten dieser Stachel zurück.
Genau in dieser Zeit, 1964, war es , daß wir uns im Union Verlag, in dem seit 1951 bestehenden Verlag der DDR-CDU, überlegten, wie MLK in unserem Verlagsangebot zur Wirkung gebracht werden könnte. Zuerst wurde nicht zufällig MLK unter die ersten fünf Hefte einer neu konzipierten Reihe biographischer Skizzen “Christ in der Welt” aufgenommen – neben Albert Schweitzer und Papst Johannes XXIII., Otto Nuschke und Emil Fuchs, und dieses Heft sollte unter den dann fast hundert erschienenen zu einem der erfolgreichsten werden, neben dem über den grand docteur aus Lambarene. Im Herbst 1964 geriet ich merkwürdiger -und glücklicherweise in die Frankfurter Buchmesse, die damals zwar auch schon ein Megaereignis war, sich aber noch übersichtlich darbot. Ich hatte an der Beisetzung des seit Mitte der fünfziger Jahre vom Union Verlag betreuten Schriftstellers und Pädagogen Leo Weismantel teilgenommen, und auf der Rückreise von dem hessischen Wohnort des Dichters gestattete ich mir einen Abstecher zur Buchmesse. Da ich mich vor allem für wissenschaftliche und kulturgeschichtliche Literatur interessierte, war ein Besuch am Stand des damals aufstrebenden Econ-Verlags Düsseldorf und Wien geboten, und dort wurde ich von Kings Buch “Warum wir nicht warten können” fasziniert. Ich hatte auch das Glück, mit dem Verleger Erwin Barth von Wehrenalp ins Gespräch zu kommen und mit ihm einen Geschäftsmann und Intellektuellen kennenzulernen, der Verständnis für unsere Situation, sowohl hinsichtlich Druckgenehmigungsverfahren wie Devisenlage, zeigte. Jedenfalls konnte schon im nächsten Jahr eine erste Auflage des Buchs von MLK bei uns erscheinen. Zwei weitere folgten, denen ein Schreiben Kings an mich vom 13. Januar 1966 beigefügt worden war, in dem der ausdrückliche Dank dafür ausgesprochen wurde, daß wir damit dem Verständnis für die “Macht der Gewaltlosigkeit” (power of nonviolence”) “in a greater Germany”, also in der DDR, gedient hätten.
Um dies vorwegzunehmen: Wiederum ein Jahr später, 1966, legten wir in einer zweisprachigen Ausgabe die Nobelpreisrede von MLK unter dem Titel “Die neue Richtung unseres Zeitalters” vor. In dem Familien- und Hausbuch “Ernte und Saat” 1966 veröffentlichten wir eine der wichtigsten Predigten Kings “Tätige Liebe”, und auch die autobiographischen Bücher von Coretta und Martin Luther King sen. wurden im Union Verlag herausgebracht.
Es müßte allerdings auch hinzugefügt werden, daß im Umfeld dieser Veröffentlichungen im Union Verlag noch andere hinzukamen, etwa die Wiedergabe des Vortrags, den der amerikanische Negerschriftsteller James Baldwin auf jener Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Juli 1968 gehalten hatte, die eigentlich durch eine Predigt von MLK hätte eröffnet werden sollen. Auch die Autobiographie und die Nobelpreisrede Albert Luthulis, des legendären Chefs des Afrikanischen Nationalkongresses und Lehrers Nelson Mandelas, standen im Kontext dieses Verlagsprogramms, in dem schließlich einige literarische Gestaltungen dieser Problematik nicht fehlten, und zwar die Romane des evangelischen Pfarrers und Schriftstellers Alfred Otto Schwede, “Die Abraham Lincoln Story” (1971) und zuvor “Glory, glory hallelujah”, also die Geschichte des von Paul Robeson besungenen John Brown, und es lag nahe, daß Schwede in diesem Roman auch ein Bekenntnis zu MLK ablegte. Nach der Ermordung Kings wurde des Vermächtnisses von ihm in einer Gedenkschrift gedacht.
Wenn dies die eine Positionsbestimmung des Werks von MLK im Verlagsprogramm des Union Verlags war, und wenn diese nicht nur statistischen Mitteilungen ihrerseits ein Beitrag zur Frage der King-Rezeption in der DDR sind, dann ließe sich noch eine andere Positionsbestimmung ins Auge fassen; auch sie hätte letztlich eine gewisse politische Bedeutung.
Als wir im Union Verlag Kings Buch “Warum wir nicht warten können” vorlegten, stand dieses im Verlagsangebot neben der Friedensrede von Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, “Bedingungen des Friedens”; sie hatten wir kurz zuvor herausgebracht, 1964. 1966 stand dann die Nobelpreisrede von MLK – es war dies übrigens, wie die Nobelstiftung bestätigte, die erste Buchausgabe dieser Rede überhaupt – neben der Lizenzausgabe des seinerzeit als sensationell empfundenen und heute womöglich vom Titel her mindestens anregenden Buchs “Der Wettlauf zum Jahre 2000” von Fritz Baade, dem damaligen Präsidenten des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, das heute noch existiert und zu jenen Forschungseinrichtungen zählt, die die Jahreswirtschaftsberichte für die Bundesregierung ausarbeiten und verantworten. Baade war schon vor 1933 SPD-Reichstagsabgeordneter gewesen, und nach der Rückkehr aus der Emigration wurde er u.a. Bundestagsabgeordneter der SPD.
Ich weiß von kirchlichen Persönlichkeiten, mit denen ich Ende der sechziger Jahre im Gespräch war, etwa vom späteren Bischof Albrecht Schönherr, wie in diesen Kreisen die erwähnten Veröffentlichungen in ihrer Bedeutung je einzeln, aber auch in ihren Zusammenhängen aufgenommen worden sind.
So mußte auffallen, was an entscheidender Stelle in von Weizsäckers Friedensrede mit einem Begriff umrissen wurde, der nicht im “Notizbuch des Agitators” in der DDR stand, im Gegenteil: Weltinnenpolitik. Von Weizsäcker verstand hierunter:
“Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter, sondern sein Herannahen drückt sich in der allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik aus. Unter dem Titel Welt-Innenpolitik werde ich hier zwei verschiedene, aber beide aus der Vereinheitlichung der Welt entspringende Phänomene beschreiben: die Entstehung übernationaler Institutionen und die Beurteilung weltpolitischer Probleme mit innenpolitischen Kategorien…”
Während hinsichtlich des ersten Phänomens vor allem die damals relevante Verhandlungsdiplomatie kritisch untersucht wurde, merkte von Weizsäcker zum zweiten etwas an, das einerseits vertraut klang (Planung), andererseits aber gar nicht auf den Alltag der Leser/innen in der DDR zu beziehen war:
Das moderne Problem heißt: Freiheit und Planung. Moderne Industriegesellschaften wie einerseits die der atlantischen Nationen, andrerseits die der Sowjetunion werden einander unmerklich immer ähnlicher; dies geschieht unter der Decke widerstreitender Ideologien und echter Gegensätze politischer Gewohnheit und politischen Gefühls. Die technischen Notwendigkeiten erzwingen ein weitgehend geplantes Leben, und mit oft kaum erkennbarem Zwang, mit ökonomischem Druck und der Verlockung des Lebensstandards werden die Menschen dem Plan eingefügt. Wenn es in unserer Welt noch eigentliche menschliche Freiheit geben soll, so bleibt uns nicht erspart, auch den Raum dieser Freiheit zu planen. Ein Plan ohne Freiheit wird sich in einer fortschreitenden technischen Welt am Ende als unterlegen, ja als funktionsunfähig erweisen; er widerspricht der Natur des Menschen, der diese Technik und ihren Fortschritt trägt.”
In dem vorhin genannten Buch von Fritz Baade ging es letztlich auch um diese Problematik, um die Perspektive einer geplanten Gesellschaft, in der die Freiheit allein als eine soziale, kollektive Größe statuiert wurde, und um die Perspektive der anderen Gesellschaft, in der Planung und Freiheit auf einen Nenner gebracht werden sollten. Überdies ging es um den Wettbewerb dieser beiden Gesellschaften und darum, welchen Einfluß sie je auf die umworbene Dritte Welt gewinnen könnten. Als Baade sein Buch schrieb, sah dieser Wettbewerb, dieser “Wettlauf”, noch nicht so schlecht für die realsozialistische Gesellschaft aus. Schließlich war dieses Buch vor 1968 erschienen, und 1968 sollte das Schlüsseljahr für den “Wettlauf” werden. Es kann hier nur angedeutet werden, aber es war wohl so, daß trotz aller Widersprüche in der Folge von 1968 ein Erneuerungsprozeß in der westlichen Gesellschaft möglich und auch real wurde, akzeptiert zuletzt auch von den Konservativen. Umgekehrt wurde der Erneuerungsprozeß in der sozialistischen Gesellschaft, wie er vom “Prager Frühling” signalisiert worden war, à la Breshnew eingedämmt. 1989 begann 1969.
Wenn man Baades Metapher vom “Wettlauf” aufnimmt, ist impliziert: Es ist eine Welt, in der er sich abspielt. EINE WELT – dies ist nun aber auch der Kerngedanke in Kings Nobelpreisrede, wo er in der Zusammenfassung seiner Ausführungen seinerseits, eine bezeichnende Metapher zur Wirkung bringt. Ich zitiere:
“Alles, was ich gesagt habe, läuft auf den einen Punkt hinaus: die Behauptung, daß der Fortbestand der Menschheit von der Fähigkeit des Menschen abhängt, die Probleme der Rassendiskriminierung, der Armut und des Krieges zu lösen; die Lösung dieser Probleme wiederum ist davon abhängig, daß der Mensch seinen moralischen mit seinem wissenschaftlichen Fortschritt in Einklang bringt und die Kunst, in Eintracht zu leben, praktisch zu üben lernt. Vor einigen Jahren starb ein berühmter Romancier. Unter seinen Papieren fand sich eine Liste von Fabeln, die er für künftige Geschichten in Aussicht genommen hatte; die am stärksten unterstrichene war: ’Eine weit voneinander getrennte Familie erbt ein Haus, in dem sie zusammen wohnen muß.’ Dies ist das gewaltige neue Problem der Menschheit. Wir haben ein stattliches Haus geerbt, ein großes ‘Welthaus’, in dem wir zusammen leben müssen – Schwarze und Weiße, Menschen aus dem Osten und dem Westen, Heiden und Juden, Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus, eine Familie, die in ihren Ideen, ihrer Kultur und ihren Interessen übermäßig verschieden ist und die – weil wir nie ohne einander leben können – irgendwie lernen muß, in dieser großen Welt miteinander zu leben.
Dies bedeutet, daß unsere Ergebenheit immer mehr auf das weltweite Ganze gerichtet werden muß anstatt auf einzelne Teile. Wir müssen jetzt die allergrößte Ergebenheit gegenüber der Menschheit als Ganzes an den Tag legen, um das Beste in unseren individuellen Bereichen zu bewahren.”
WELTHAUS – es war dies die bildhafte Umschreibung dessen, was Franklin Delano Roosevelt und Wendell S. Willkie, die Führer der amerikanischen Nation im Zweiten Weltkrieg, im Konsens der beiden großen Parteien, die sie repräsentierten, als Kriegs- bzw. Friedensziel formuliert hatten, nämlich die Herstellung der ONE WORLD, der einen, einzigen Welt, durch die im Kampf gegen das NS-Regime vereinten Nationen (noch klein geschrieben). Es kam dann zwar nach dem Sieg der Alliierten zu der Vereinten Nationen, jetzt groß geschrieben, also zur UNO, aber fast gleichzeitig zur neuerlichen Spaltung der Welt, zum Kalten Krieg, zum “Wettlauf”, und MLK wußte, wenn er in seiner Osloer Rede gegen atomare Waffen, für friedliche Lösung der weltpolitischen Probleme eintreten würde, geriete er zwischen die Fronten.
Heute wäre er es womöglich wieder, denn daß MLK der von der UNO nicht gedeckten militärischen Gewaltlösung der irakischen Probleme durch die USA und England im Dezember 1998 zugestimmt hätte, ist wohl kaum anzunehmen. Wahrscheinlich hätte er dieser Strategie, die manche Beobachter – wie Professor Ernst-Otto Czempiel in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” vom 18. Dezember 1998 – für eine neue Strategie der Gewalt und für den “Abschied von der Politik der Weltgemeinschaft” halten, seinen Widerstand entgegengesetzt, wie er dies seinerzeit in der Vietnam-Politik mit seiner Aufsehen erregenden Ansprache in der New Yorker Riverside Church am 4. April 1967 getan hatte.
Daher setzte er – und das ist, wenn ich dies richtig sehe, eigentlich die über 1964 und 1968 und 1989/90 weiterführende und gültige Botschaft Martin Luther Kings – die entscheidenden Akzente im zweiten, im mittleren Teil der Nobelpreisrede. Hatte er im ersten Teil über die Bürgerrechtsbewegung und über seine Konzeption der Gewaltlosigkeit gesprochen und ging es im dritten Teil um den Frieden und die atomare Bewaffnung, so im Mittelteil um das, was King besonders am Herzen lag, um den Kampf gegen die Armut, also, wenn Sie so wollen, um die Ergänzung der individuellen Bürgerrechte durch die sozialen, und dies im Zeichen von Gleichheit und Gerechtigkeit für die Angehörigen aller Rassen. Aus der Sicht von heute, genau einhundert Jahre nach dem Eintritt der USA in die aktive Gestaltung der Weltpolitik (Krieg mit Spanien um Kuba, die Philippinen), erscheint Kings Beschwörung der Problematik der Armut überdies, als Aufruf an die heute einzig noch führende Weltmacht, ihr nicht auszuweichen, sondern gerade ihr alle Kraft zugunsten wirklicher Lösungen zu widmen.
Die diesbezüglichen Kernsätze von Kings Osloer Rede sind diese:
“Die Zeit ist gekommen für einen mit aller Macht geführten Weltkrieg gegen die Armut. Die reichen Nationen müssen ihre ungeheuren Quellen des Wohlstandes benutzen, um die Unterentwickelten zu entwickeln, die Ungebildeten zu bilden und die Hungrigen zu ernähren. Im Grunde ist eine Nation groß, wenn sie des Mitfühlens fähig ist. Kein Individuum und keine Nation kann groß sein, wenn sie sich nicht um ”den Geringsten unter diesen” sorgen. Tief in das Wesen unserer religiösen Überlieferung ist die Überzeugung eingegraben, daß die Menschen zum Bilde Gottes erschaffen und daß sie Seelen von unendlichem metaphysischem Wert sind, die Erben eines Vermächtnisses von Erhabenheit und Würde. Wenn wir dies als eine tiefe moralische Gegebenheit fühlen, können wir nicht hinnehmen, daß Menschen Hunger haben, daß Menschen dem Hungertod und Krankheiten preisgegeben sind, wenn wir über die Mittel verfügen, ihnen zu helfen. Die wohlhabenden Nationen müssen sich alle anschicken, die Kluft zwischen der reichen Minderheit und der armen Mehrheit zu überbrücken.
Letzten Endes dürfen die Reichen an den Armen nicht achtlos vorübergehen, weil sowohl Reiche wie Arme in ein einziges Gewand des Schicksals gehüllt sind. Alles Leben steht in Zusammenhang miteinander, und alle Menschen sind voneinander abhängig. Die Not der Armen schwächt die Reichen, und die Rettung der Armen stärkt sie. Wir sind notgedrungen unseres Bruders Hüter, weil die Struktur der Gesellschaft auf Wechselwirkung beruht. John Donne veranschaulichte diese Wahrheit, als er schrieb:
‘Kein Mensch ist eine Insel, abgeschlossen in sich; jeder
ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des
Meeres: Wenn ein Stück Erde weggespült wird von der See,
wird Europa kleiner, genauso, wie wenn es ein Vorgebirge
wäre, ein Gutshof deiner Freunde
oder deiner selbst; der Tod jedes Menschen
schwächt mich, denn ich bin inbegriffen in
der Menschheit: Und deshalb sende nie zu fragen,
für wen die Stunde schlägt: sie schlägt für dich.”
Was MLK hier – im Anschluß an einen häufig von ihm zitierten englischen Dichter aus dem 16. Jahrhundert – zu seinem Menschenbild formuliert, ist auf eigene Weise auf das zu beziehen, was er im Jahr zuvor in seinem berühmt gewordenen Brief aus dem Gefängnis in Birmingham an zögerliche und zweifelnde Kirchenführer und Theologen geschrieben hatte – eine “Lektion” über Gleichheit und Gerechtigkeit:
“Um die Sprache des jüdischen Philosophen Martin Buber zu gebrauchen:
die Rassentrennung setzt an die Stelle der ‘Ich-Du-Beziehung’ die ‘Ich-Es-Beziehung’ und führt dazu, daß Menschen zu Sachen herabgewürdigt werden. So ist die Segregation nicht nur politisch, wirtschaftlich und soziologisch ungesund, sondern auch falsch und sündhaft. Paul Tillich hat gesagt, daß Sünde das gleiche ist wie Trennung und Absonderung. Ist nicht die Rassentrennung wesensmäßig der Ausdruck der tragischen Trennung des Menschen, seiner furchtbaren Absonderung, ja seiner schrecklichen Sündhaftigkeit?”
Als ich dies damals las, erinnerte es mich nicht nur daran, daß sich MLK als Student viel mit den Auffassungen des in die USA emigrierten deutschen Theologen und Antifaschisten Paul Tillich beschäftigt hatte; es ergab sich für mich vielmehr auch eine große Nähe zu dem, was ich in dem Buch von Fritz Baade, in dessen letztem Kapitel “Die große Zeit des Christentums”, gelesen hatte – ein für einen Ökonomen in einem mehr dem Politikökonomischen gewidmeten Buch offenbar denkwürdiges Kapitel! Dort kann man etwa lesen:
“Unsere Hoffnung, daß der Wettkampf zwischen Vernunft und Wahnsinn, in dem wir stehen, zugunsten der Vernunft entschieden wird, stünde auf sehr schwachen Füßen, wenn nicht die Kräfte des Glaubens mit denen des Verstandes verbündet wären. So wie der Christ als Christ sich darüber freuen darf, daß er die Lehren Christi so, wie sie in der Bergpredigt verkündet sind, nun endlich ernst nehmen und befolgen darf, so bedeuten diese Lehren für die gesamte Menschheit eine entscheidende Hilfe bei dieser Wahl zwischen Selbstvernichtung und der Hoffnung auf eine Welt, die fast ein Paradies auf Erden werden könnte.
Das Wort: ’Liebet eure Feinde!’ ist allzu lange nur als ein Sonntagswort empfunden worden, ohne praktische Bedeutung für den Alltag. Heute wird es ein Wort der Realpolitik, und wem dieses Wort zu streng und zu fordernd zu sein scheint, der soll sich mindestens mit dem Ersatzwort neuerer Literatur vertraut machen: ‘Feinde sind auch Menschen’. Die Hoffnung der Menschheit darauf, daß ihre Kinder das Jahr 2000 erleben werden, wird erheblich erhöht werden, wenn wir hoffen dürfen, daß die entscheidenden Politiker in der Welt, in der östlichen wie in der westlichen, mindestens diese bescheidenere Wahrheit einsehen.
Aber das Schönste, was in der Bergpredigt zu Problemen gesagt worden ist, die vor den heute lebenden Menschen und vor der nächsten Generation stehen, ist das Wort aus den Seligpreisungen: ‘Selig sind die Sanfmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.’
Kings Menschenbild nach seiner Osloer Rede und nach dem Brief aus dem Gefängnis hat indes offenbar noch eine andere nicht uninteressante Dimension, die Nähe zur jüdischen Gemeinschaft. Sie wird nicht allein durch die Beschwörung Martin Bubers, des Freundes von Emil Fuchs, der das Nachwort zur DDR-Ausgabe von “Warum wir nicht warten können” geschrieben hatte, angedeutet; sie geht auch aus der aktiven Beteiligung amerikanischer jüdischer Persönlichkeiten, etwa des bekannten Rabbiners Joachim Prinz, an der Bürgerrechtsbewegung hervor, und nicht zuletzt ist darauf zu verweisen, daß Dr. Hans Lamm, der Übersetzer von “Warum wir nicht warten können”, vor 30 Jahren eine führende Rolle im Zentralrat der Juden gespielt hat.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, damit schließt sich der Kreis dieser meiner Überlegungen zum 70. Geburtstag von MLK. Wenn wir als Christen in der DDR die Gedanken MLKs auf- und annahmen, dann natürlich wie auch andere in der damaligen DDR in Hinsicht auf die Erfolge der Aktionen im Bürgerrechtskampf. Wir hatten uns aber zu hüten, und dem einen gelang dies besser als dem anderen, den Versuchungen eines notorischen und prinzipiellen Antiamerikanismus nachzugeben. Möglicherweise konnte solcher Versuchung dann am ehesten entgegengesteuert werden, wenn King im Kontext auch anderer Positionen nonkonformistischer Art, von denen hier einige damals in der DDR auf dem Buchmarkt greifbar gewesene Proben angeführt worden sind, zur Kenntnis genommen wurde, gewissermaßen mit der Formel:
Für das WELTHAUS der SANFTMÜTIGEN, das auf den Pfeilern von PLAN UND FREIHEIT ruht..
Prof. Dr. phil. Dr. theol. h.c. Günter Wirth, Berlin
Pfarrer Wolfgang Wagner Evangelische Akademie Bad Boll
Herr, höre meine Worte, merke auf mein Reden! Vernimm mein Schreien; denn ich will zu dir beten.
Andacht vor Vikaren und Klinikseelsorgern am 10.1.2006 zur Tageslosung Psalm 5,23
Liebe Gemeinde !
Genau vor einer Woche stand ich in Atlanta in der Kirche von Martin Luther King, der am kommenden Sonntag 77 Jahre alt geworden wäre, wenn ihn nicht ein Attentäter 1968 erschossen hätte. Die Ebenezer Kirche ist heute ein Museum, seine baptistische Gemeinde hat sich gegenüber mittlerweile eine größere gebaut. Aber so ist seine Zeit konserviert und wenn man seine Kanzel betrachtet, dann kann man sich vorstellen, wie er hier wortgewaltig gegen den weißen Rassismus gepredigt hat. Bekanntlich nicht nur das. Er hat auch als geistiger Schüler Gandhis die gewaltfreie militante Aktion in die Auseinandersetzungen eingeführt, was ihm mit 35 Jahren den Friedensnobelpreis einbrachte.
Die von ihm gegründete und lange angeführte Southern Christian Leadership Conference gibt es heute noch, wenn sie auch die einstige Bedeutung verloren hat. Viele Besucher, nicht nur junge Schwarze, kommen zur Gedenkstätte. Ich konnte mich mit einer einstigen Mitstreiterin von ihm unterhalten, die sich darüber freute, dass King und sein Kampf für die Bürgerrechte in unseren Schulbüchern dargestellt wird. Die Reden, Aufsätze und Predigten des Bürgerrechtlers zählen inzwischen zu den Klassikern der Weltbotschaften , sein legendärer Ausspruch Ich habe einen Traum ist immer noch Hoffnungsträger für die unterdrückten Völker dieser Erde. Bezeichnend auch, dass der Martin-Luther-King-Day einer der wenigen offiziellen Feiertage in den USA ist. Eine Nation verneigt sich damit vor den Visionen eines echten Pazifisten. Seine Texte zeigen, wie Wut und Hass umgewandelt werden können zu schöpferischer Kraft in jedem Menschen, und sie sind heute aktueller denn je.
Doch lieferbar ist in Deutschland nur noch ein Buch von ihm Ich habe einen Traum und theologisch gibt es nur eine aktuelle Darstellung des einstigen Mitstreiters Hans-Eckehard Bahr auf dem Markt. In unserer Kirche und Theologie hat er keine nachhaltige Wirkung erzielt. Theologische Arbeiten über ihn aus deutschen Fakultäten kenne ich kaum. Nicht einmal wichtige amerikanische Beiträge werden übersetzt. Dabei könnte er doch in seiner Person eine Brücke sein zwischen denen, die Aktion und Veränderung wollen und denen, die auf Gebet und Kontemplation setzen. Ich gebe zu, dass er mich seinerzeit im Studium ungeheuer beflügelt hat.
Denn dieser Mann war nicht nur ein politischer Akteur, sondern auch ein großer Beter. Nicht nur in der Kirche in seiner singenden Gemeinde, sondern auch auf der Straße unter den harten Strahlen der Wasserwerfer oder brutalen Knüppel der Polizei.
Es ist erschütternd, wenn man in den alten Filmaufnahmen sieht, wie er die Menschen beten lehrt in all dem Hass und in aller Gewalt. Ja einige bekennen: Ohne Gebet hätten sie verzweifelt aufgegeben oder sich der sinnlosen Gegengewalt verschrieben.
Ist dafür Platz in unserer bürgerlichen Kirche? Ich fürchte, man nimmt lieber Ungerechtigkeiten hin, als sich dem Vorwurf auszusetzen umstritten zu sein. Und das ist ja eigentlich das schlimmste, was gegenwärtig hierzulande einem Pfarrer passieren kann. Na gut, Bischof wird man auch nicht als Radikaler. Aber das kann sowieso nur einer sein.
Dabei ist doch schon die Sprache der Hebräischen Bibel militant. Ob deswegen dieser Psalm 5 nicht in den liturgischen Teil des Gesangbuches genommen wurde? Wie soll man das anders verstehen? Wer böse ist, bleibt nicht vor dir. Die Ruhmredigen bestehen nicht vor deinen Augen; du bist feind allen Übeltätern. Du bringst die Lügner um; (also, wenn das nicht militant ist!) dem Herrn sind ein Greuel die Blutgierigen und Falschen v5-7.
Martin Luther King hat als Jünger Jesu und Schüler Gandhis verstanden, dass selbst die Blutsauger verwandelt werden können. Das Böse hassen, aber den Bösen lieben heißt das unmöglich schwere christliche Programm. Bitter konnte er werden, wenn – in seinen Worten – weiße Kirchenmänner abseits standen und nichts Besseres zu tun wussten, als fromme Sprüche und scheinheilige Belanglosigkeiten im Munde zu führen. Die meisten Menschen, besonders aber die Christen, verhalten sich wie Thermometer. Sie zeigen die Temperatur der Mehrheitsmeinung an. Sie sind aber nicht wie Thermostaten, die die Temperatur der Gesellschaft regeln.
Einmal betete er direkt: Ja, Jesus, ich möchte an deiner rechten oder linken Seite sein, nicht aus irgendwelchen selbstsüchtigen Motiven.
Ich möchte an deiner rechten oder linken Seite sein, nicht aus Gründen politischer Berechnung oder aus Ehrgeiz. Nein, ich möchte dort nur sein in Liebe und Gerechtigkeit, in Wahrhaftigkeit und in der Verpflichtung gegenüber anderen, damit wir aus dieser alten Welt eine neue Welt schaffen können.
Amen
Wolfgang Wagner